: Manipulationen
Die „Birmingham Six“ und „Guildford Four“: Jim Sheridans „Im Namen des Vaters“ (Wettbewerb) ■ Von Ralf Sotscheck
Selbst die Nachmittagsvorstellungen sind restlos ausverkauft, seit der Film kurz vor Weihnachten im Dubliner Savoy-Kino Premiere hatte. Innerhalb der ersten sechs Wochen spielte er 1,8 Millionen Pfund ein. Vergangenen Mittwoch wurde er in sieben Kategorien für den Oscar nominiert. Selten ist ein Film in Irland so gefeiert, aber auch so verdammt worden wie Jim Sheridans „Im Namen des Vaters“. Das ist bei diesem Thema allerdings kein Wunder: Der Film handelt von der Beziehung eines großen Landes zu seinem kleinen Nachbarn, aber auch von der Beziehung zwischen Vater und Sohn.
Im Herbst 1974 hatte die Bombenkampagne der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) in England ihren Höhepunkt erreicht: Mehrere Kneipen in Birmingham, Guildford und Woolwich flogen in die Luft. 28 Menschen wurden dabei getötet, Hunderte verletzt. Für die Anschläge wurden neun irische Emigranten und eine Engländerin zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt: die „Birmingham Six“ und die „Guildford Four“. Gerry Conlon, einer der „Guildford Four“, hatte unter den Mißhandlungen während der Polizeiverhöre „gestanden“, daß er das Bombenbasteln in der Küche seiner Tante Annie Maguire gelernt habe. Am selben Abend wurden alle verhaftet, die sich im Haus der Maguires aufhielten: Annie und ihr Mann Pat, ihre Kinder, ein Schwager, ein Nachbar, der seine drei Kinder bei den Maguires abgeben wollte, und Conlons Vater Guiseppe, der aus Belfast nach London gekommen war, um seinem Sohn einen Anwalt zu besorgen. Abstriche von den Fingerspitzen, die von einem 17jährigen Praktikanten untersucht wurden, wiesen bei drei der Angeklagten winzige Nitroglyzerinspuren auf.
Die „Maguire Seven“ wurden zu Freiheitsstrafen zwischen acht und vierzehn Jahren verurteilt. Der schwerkranke Guiseppe Conlon starb 1980 im Gefängnis. Auch als ein Jahr später die Londoner IRA-Einheit gefaßt wurde und die Bombenanschläge gestand, kamen die fälschlich Verurteilten nicht frei. Das Gericht erklärte sie kurzerhand allesamt zu Komplizen. Erst im Oktober 1989 wurden die „Guildford Four“ nach 15 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen, weil nachgewiesen werden konnte, daß Polizisten Geständnisse gefälscht und Wissenschaftler des Verteidigungsministeriums Entlastungsmaterial verheimlicht hatten. Damit war auch das Urteil gegen die „Maguire Seven“ diskreditiert – doch die hatten ihre Strafen bereits in voller Länge abgesessen. Die „Birmingham Six“, die ebenfalls Opfer von Korruption und Meineiden der Staatsorgane geworden waren, kamen im März 1991 frei.
Dem Regisseur Jim Sheridan ist vorgeworfen worden, daß er mit seinem Film zwar die Manipulation der Wahrheit durch die britische Polizei und Justiz anprangert, es selbst aber mit der Wahrheit nicht sehr genau nimmt. So waren Gerry Conlon (Daniel Day-Lewis) und sein Vater Giuseppe (Peter Postlethwaite) – deren Beziehung das zweite Hauptthema des Films ist – nie in derselben Zelle eingesperrt, ja die meiste Zeit nicht mal im selben Gefängnis; die „Guildford Four“ und „Maguire Seven“ wurden in getrennten Gerichtsverfahren angeklagt; Paul Hill, einer der „Guildford Four“, war nie im Haus der Maguires – einer der wichtigsten Punkte bei der Verteidigung der „Maguire Seven“; und schließlich hat die Rechtsanwältin Gareth Peirce (Emma Thompson) die Freilassung nicht durch einen emotionalen Auftritt vor Gericht erwirkt, bei dem sie einen von der Staatsanwaltschaft unterdrückten Entlastungsbeweis präsentierte, sondern durch jahrelange mühsame Kleinarbeit hinter den Kulissen. Sind Sheridan und Terry George, dessen Drehbuch auf Gerry Conlons Buch „Proved Innocent“ basiert, wegen der Ungenauigkeiten zu verurteilen?
„Im Namen des Vaters“ ist kein Dokumentarfilm. Die zahlreichen Dokumentarfilme zu diesem Thema haben immer nur ein begrenztes Publikum erreicht – vor allem diejenigen, die ohnehin Bescheid wußten. Diesen Spielfilm aber kennen bereits Millionen in den USA und in Irland, die zum Teil sicher nur wegen Daniel Day- Lewis oder Emma Thompson ins Kino gegangen sind. Er habe „die Fakten komprimiert“, sagte Sheridan: 15 Jahre in gut zwei Stunden. „Die Wahrheit zu interpretieren bringt eine riesige Verantwortung mit sich“, sagte Daniel Day-Lewis – aber es ist legitim. Es geht ja nicht nur um die Darstellung eines historischen Ereignisses: Die britischen Gefängnisse sind noch immer voll mit Opfern von Fehlurteilen – Iren, Engländer, Schwarze, Asiaten. Sein Film sei „gegen das britische Establishment“ gerichtet, sagte Sheridan, aber er sei „nicht anti-englisch“.
Doch gerade die Menschen, die sich in der Kampagne für die Freilassung der britischen Justizopfer engagiert haben, werfen dem Film vor, daß die Ungenauigkeiten es der britischen Presse leicht machen würden, ihn ins Reich der Fiktion zu verbannen. Dabei verkennen sie jedoch, daß es gar nicht auf den Inhalt des Films ankommt, um diese Reaktion zu provozieren, sondern allein auf das Thema. Die meisten britischen Boulevardzeitungen hatten den Film denn auch schon als „IRA-Machwerk“ verteufelt, bevor er überhaupt abgedreht war. Der Evening Standard beispielsweise belehrte Emma Thompson, daß sie als Oscar- Preisträgerin eine Rolle in einem solchen Film niemals hätte annehmen dürfen. Aber Thompson habe schließlich auch „mit linken Abgeordneten gegen den Golfkrieg demonstriert“, aus ihrer „feministischen Einstellung“ kein Hehl gemacht und sogar bei einer Filmpremiere Prinzessin Margaret angesprochen, bevor die Schwester der Königin das Wort an sie gerichtet habe. Die Filmkritiken in der britischen Presse erinnerten fatal an die Hetzkampagne, die 1974 die Atmosphäre geschaffen hatte, in der solche Fehlurteile überhaupt erst möglich wurden.
Inzwischen sind diese Stimmen etwas leiser geworden. In einem geschickten Schachzug hat der Verleih den Film nämlich zuerst in Irland und in den USA in die Kinos gebracht, wo er überwiegend auf Begeisterung gestoßen ist. Dadurch wurde der Kritik in Großbritannien – dort ist er erst in der vergangenen Woche angelaufen – der Wind aus den Segeln genommen. Bereits im Januar wurde der Film den Abgeordneten in einer Sondervorführung im Londoner Unterhaus gezeigt. Gerry Conlon war als Ehrengast dabei. Die Parlamentarier waren voll des Lobes: Der Film sei „bewegend, ausdrucksstark und kraftvoll“. Andrew Robathan, ein Tory-Abgeordneter und ehemaliger Offizier der britischen Armee in Nordirland, bescheinigte Sheridan, daß die Verhörmethoden und die Geständnis-Szene „sehr realistisch“ seien. Er habe des öfteren erlebt, wie Verdächtige zusammengeschlagen wurden. Die englischen Gerichte leugnen das freilich nach wie vor.
Die einzige Schwäche des Films ist denn auch die Tatsache, daß er das Ausmaß des Komplotts nicht deutlich macht, das bis in die höchsten Ebenen der Justiz reichte. Und er verschweigt die britischen Organisationen, Einzelpersonen, Abgeordneten und auch Polizisten, denen es zu verdanken ist, daß die Skandale letztendlich aufgedeckt wurden.
Der Film macht wütend, aber er ist gleichzeitig sehr unterhaltsam und streckenweise sogar vergnüglich. Daniel Day-Lewis, der für seine Rolle als schwerbehinderter irischer Schriftsteller Christy Brown in dem Sheridan-Film „Mein linker Fuß“ einen Oscar bekam, ist in seiner Rolle als Gerry Conlon herausragend. Bevor die Verhörszenen gedreht wurden, hat er drei Nächte nicht geschlafen oder gegessen und sich von südirischen Sonderpolizisten vorbereiten lassen. Sheridan gibt zu, daß Universal Pictures keine 13 Millionen Dollar für den Film ohne Day- Lewis herausgerückt hätte. Emma Thompson war für Universal dann das „Tüpfelchen auf dem i“, sagte Sheridan. Wichtiger für den Film als Thompson ist jedoch der bekannte englische Theaterschauspieler Peter Postlethwaite, der Guiseppe Conlon überzeugend spielt und auch im richtigen Leben eine Vaterfigur für Day-Lewis ist, seit beide vor Jahren am Old Vic in Bristol engagiert waren. Lediglich Don Baker, ein Dubliner Musiker, der hier erstmals in einem Film auftritt, fällt als IRA-Chef Joe McAndrew etwas ab. Ursprünglich sollte der Produzent Gabriel Byrne diese Rolle übernehmen, mußte jedoch wegen einer Hauptrolle im „Prinz von Jütland“ absagen. Zwei der Lieder im Film werden von Bono gesungen, das dritte von Sinead O'Connor.
Gerry Conlon war mit dem Film jedenfalls hochzufrieden: „Ich wollte unbedingt, daß ein irischer Regisseur den Film macht. Ich wollte keinen Hollywoodfilm, in dem Sylvester Stallone die Gefängnismauer durchbricht und alle befreit.“
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