: Baldrian statt Ballermänner
■ Bewaffnete oder unbewaffnete Selbstverteidigung gegen die Verunsicherung nach Mordserien? / Im Ernstfall fehlt die innere Bereitschaft, Waffen tatsächlich zu benutzen
Der Waffenhändler Harry Wodarz weiß aus eigener Erfahrung, zu welcher Brutalität Menschen fähig sein können. Seine eigene Mutter ist mit einer Axt erschlagen worden. Trotzdem würde er nach der Mordserie im Januar, die durch ihre Brutalität auffiel, keinesfalls voreilig zum Kauf von Schreckschußpistolen oder Gasspray als Schutzgarant raten. Wodarz, der ein Geschäft in Neukölln und eins in Schöneberg betreibt, verzeichnet nach der Mordserie keinen größeren Umsatz, wie andere Berliner Waffenhändler auch. Er bedauert sogar, daß nach Verbrechensserien „immer zwei bis drei Kunden aufgrund der Berichterstattung in den Medien kommen“, um ihre Angst durch den Kauf von Waffen zu verringern. Oft seien diese Leute im „gesetzeren Alter“, 50- oder 60jährig, die abends viel unterwegs sind oder schon „unangenehme Situationen“ erlebt haben. Unsichere Kunden schickt Wodarz wieder nach Hause. Sie sollen genau wissen, was sie wollen. Frauen, die „technisch nicht sehr bedarft sind“, rät er eher zu einem Spray. Ansonsten kann Wodarz, der sich gegebenenfalls mit Judo zur Wehr setzt, nur resigniert feststellen: „Wenn die richtig Großen kommen, kann man nur weglaufen.“
Auch Winfried Roll, Leiter der kriminalpolizeilichen Beratungsstelle, sieht derzeit „keinen Anlaß“ zu bewaffneter Verteidigung. Der Vergleich der Kriminalitätsstatistiken der letzten Jahre zeige, daß die Serie der sechzehn Morde im Januar keinen Anstieg darstellt. Bei hilfesuchenden telefonischen Anfragen, ob Tränengaspistole oder Sprühdose besser sei, steht für Roll fest: „Weder noch.“ Er hat zwar Verständnis für „die statistisch nicht begründbare Angst“, führt jedoch zur Versachlichung der Diskussion Vergleichszahlen mit anderen Großstädten an. Nach Hamburg, Bremen, Lübeck und Rostock liegt Berlin auf Platz 8. Kommen in Magdeburg beispielsweise 4,7 Straftaten auf 100.000 Einwohner, so sind es in Berlin gerade mal 3,1. Bei Mordstatistiken wie der von Moskau, wo in einem Jahr knapp 2.000 Menschen umgebracht werden, „würde hier die Welt zusammenbrechen“, bemüht sich Roll um eine nüchterne Diskussion der Gewalttaten. „Berlin ist eine Insel der Serie.“
Gegen eine „Aufrüstung“ sprechen nach Rolls Meinung auch die vielen Fälle, in denen bewaffnete Verteidigung überhaupt nichts genützt hat. Ende 1992 wurden sechs Wochen lang „klassische Fallbeispiele“ gesammelt. Von den fünfundzwanzig registrierten Fällen hat die bewaffnete Verteidung nur bei knapp der Hälfte „bestimmungsgemäß funktioniert“. Als Ursache hierfür sieht Roll „die psychologische Krücke“, das Fehlen der innerlichen Bereitschaft, die Waffe auch wirklich einzusetzen. Wenn schon zu Waffen gegriffen wird, sollten diese „bewußt und gezielt“ verwendet werden. Bei Elektroschockern sollte man sich beispielsweise im klaren darüber sein, daß man den Täter auf kurze Distanz herankommen lassen muß. Bewaffnung kann darüber hinaus auch zu einer höheren Gewaltbereitschaft der Täter führen, warnt Roll. Gegen betrunkene oder unter Rauschgift stehende Täter kann Tränengas sogar gänzlich nutzlos sein, da deren Schmerzempfinden oft gegen Null geht. Auch Messer gewährleisten keine „verhältnismäßige Notwehr“, so Roll. Statt sich einer Gefahr auszusetzen, sollten die „Bürger das Heil in der Flucht suchen, auch unter Verlust des eigenen Gesichts“, rät Roll. An eine gewisse Machtlosigkeit hat er sich gewöhnt: „Wir können doch kein Baldrian unters Volk verteilen.“
Waffenlose Selbstverteidigung statt Schreckschußpistolen und Elektroschocker? Haluk Gelen, Betreiber eines Sport- und Freizeitcenters in Kreuzberg, hat, wie viele seiner KollegInnen, nicht den Eindruck, daß serienmäßig auftretende Morde zu einem Boom in Selbstverteidigungskursen führen. Er nimmt zwar viele Anrufe verunsicherter BerlinerInnen entgegen, doch die meisten glauben, in kurzer Zeit was lernen zu können. „Man braucht mehrere Jahre“, so Gelen, „damit die Techniken verinnerlicht werden.“ Von reinem Frauentraining hält er nicht viel, da die Angreifer meistens Männer sind und die anders angreifen als Frauen. Schon allgemeines Konditionstraining wie Joggen kann hilfreich sein, um gegebenenfalls einfach wegrennen zu können. „Kurz und wirksam“ ist nach seiner Ansicht allemal „ein Tritt in die Eier und dann ein Griff in die Haare oder einfach laut wie Alarmsirenen zu schreien.“ Barbara Bollwahn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen