: Metropole der Öffentlichkeit
Stendhals Beine in Venedig. Bewegungen und Begegnungen zu Wasser und zu Lande ■ Von Martina Döcker
Vom Platz aus gesehen bietet die Gasse einen lebhaften Anblick. Menschen treten aus dem Dunkel des Häusermeeres ins Licht an der Stirnseite des Platzes, verfolgen, ohne ihr Tempo zu verlangsamen, ihren Weg. Von beiden Seiten kommen und gehen sie, das helle Stakkato der hohen Absätze, das elastische Ächzen der Gummi-, der trockene Takt der Ledersohlen. Schwingende Arme, bepackte Arme, eng an den Oberkörper gepreßte Ellenbogen, dazwischen ein Händeschütteln, Stimmen, Rufe, leise Gespräche.
Plötzlich, inmitten der Bewegung, ein Wesen besonderer Art, mannshoch, mit glänzendem, goldgerändertem Panzer. Schwankend, aber zielstrebig bewegt es sich vorwärts, auf zwei Beinen, zwei menschlichen. Man stutzt, erinnert sich, daß die Stadt, in der man sich aufhält, Venedig heißt und daß sie bekannt ist für ihr Kristall, ihre Bilderrahmen, ihre Handwerker, Tischler, Schnitzer, Vergolder. Doch diese Notiz aus dem Reiseführer befähigt noch nicht dazu, das Rätsel des zweibeinigen Fabelwesens, das die Welt reflektiert, zu lösen: denn vor einem wandelt ein Spiegel. Ein großer alter Wandspiegel, der, vermutlich von einem Lehrjungen, von seinem Platz im Salon eines palazzo zur Restauration in die Werkstatt geschleppt wird. So erinnert er an die Metapher des französischen Autors Stendhal, der versuchte, das Nachahmungsprinzip seiner Romane im Bild vom wandernden Spiegel zu fassen. Der reale Spiegel wird für den Betrachter zur poetischen Mahnung, die eigene Aufmerksamkeit zu erhöhen für Venedigs Paare und Passanten, für die eine venezianische Passion: den genießerischen Hang zum öffentlichen Leben. Denn anders als die von Stendhal geschilderte unüberbrückbare Kluft zwischen dem einzelnen und seiner Umwelt ist das Bewußtsein vom alltäglichen Miteinander ein venezianisches Plaisir. Doch schon haben sich „Stendhals Beine“ samt ihrer wunderlichen Last wieder entfernt, sich verloren in Venedigs Gassengewirr, nicht ohne zuvor die Umgebung in sich einzufangen und zugleich alle Blicke auf sich zu ziehen. Sehen und Gesehenwerden. Die Losung der Stadt.
Ein Telefon schrillt. Die Gasse entlang hastet ein kleingewachsener Mann mit seinem Bekannten. Er spricht bedeutende Worte wie „leasing“ in die Muschel seines telefoninos, dieses Symbols der eigenen Wichtigkeit. Mit der Zeit bemerkt man, daß dieser Mann nicht der einzige telefonino-Besitzer ist, daß er vielmehr zu einer eingeschworenen Gemeinde der Unabkömmlichen gehört.
So lernt man die Stadt Venedig und ihre Bevölkerung allmählich zu strukturieren, zu lesen. Zu den zunächst eher unauffälligen Gruppen gehören die Eigentümer der telefonini. Niemand ahnt, wer einer ist. Bis das jaulende Geräusch die Frage in den Raum stellt. Zum Beispiel auf dem dichtbesetzten vaporetto, einem der öffentlichen Wasserbusse. Wer fördert hier gleich das gnadenlos ungeduldige Telefon zutage? Ausgerechnet die am nächsten stehende Frau kramt ihren Fernsprech-Knochen aus der Handtasche, klappt die Antenne aus und beginnt genüßlich mit Freund oder Freundin zu plaudern. Man empfindet das als Störung, als Vergehen gegen die Gegenwärtigkeit der Bootsfahrt.
Eine andere Gruppe in Venedigs Bevölkerung, deren Zusammengehörigkeit sich erst auf den zweiten Blick erschließt, sind die Warenlieferanten, Amphibienwesen mit eigener Sprache. Die Wasseradern Venedigs regeln den groben Stoffwechsel der Stadt, auf den rii und canali werden die schwergewichtigen Lasten zu ihren Zielen geschafft. Kisten mit frischem Gemüse, Früchten, Eiern, Fischen, Fleisch, Tonnen von Toilettenpapier, zentnerweise Pasta werden in die Vorratsräume der Restaurants und Läden geliefert. Ein Ballen schmutziger Bettbezüge, mit Schwung aus dem dritten Stockwerk eines Hotels geworfen, landet zielgenau in der Wäschereibarke. Bewerkstelligt werden diese Arbeiten von Bootsmännern. Sie sind durch eine charakteristische Sprache verbunden, die zwischen Wasser und Land pendelt. „Ich bin da!“, „Ich möchte anlegen!“, „Fang auf!“ spielt sich nicht auf der Ebene von herkömmlicher Syntax und Semantik ab; Rufe, Blicke, Bewegungen bilden ein anderes, rascheres Zeichensystem. Nur keine Zeit verlieren, denn der nächste Lastkahn wartet bereits, kommt nicht vorbei, Verkehrsbehinderung, Stau ...
Venedig – Stadt der Berufskleidung, Tradition einer ständisch strukturierten urbanen Gesellschaft. Die Handwerker des Elektrizitätswerkes und die Monteure der Telefongesellschaft tragen blaue Joppen, die Musiker der Café-Combos auf dem Markusplatz beigefarbene Anzüge, die Fischverkäufer die langen, weißen Stoffschürzen über den geringelten Hemdchen, die Schaffner der vaporetti Bügelfaltenhosen aus blauer Kunstfaser.
Trotz einheitlicher Berufstracht kommen die persönlichen Eigenschaften der Leute deutlich zum Vorschein. Die hochgezogenen Augenbrauen des Café-Florian- Pianisten, der kugelrunde Bauch des Fischhändlers, der blonde Pferdeschwanz des Schaffners, dem in der Hosentasche L'unità steckt. Physiognomien, Gesten, Lebensspuren, die das Bild der Stadt Venedig prägen.
Die Kellner jagen in ihren strikt weißen Jacketts über weißem Hemd mit schwarzer Fliege durch die Tischreihen, sammeln bei plötzlichem Regenguß die unter freiem Himmel liegenden Gedecke ein, decken neu auf unterm Laubengang; einer übernimmt die Gabeln, einer die Messer, einer Löffel, einer Teller, Gläser, Servietten, Pfeffer, Salz ... Eine Serie, sagt der „Duden“, sei „eine Reihe bestimmter gleichartiger Dinge oder Geschehnisse“. Venedig kennt viele Serien, und das macht ein gut Teil der Schönheit der Stadt aus: Löffel, Gabeln, Stuhlreihen, Arkaden und Gondeln, die sich im Wasser wiegen.
Die Gondeln in ihrer kalkulierten Krümmung sind ein Fall für sich, erst recht die gondolieri. Die gondolieri – mit der obligaten Kreissäge aus Stroh und dem weißen Matrosenkittel leicht zu erkennen – wirken wie die Könige der Stadt. Die fast meditative Bewegung ihres Stakens, die sichere Ruhe ihres Steuerns verleihen ihnen Würde, heute genauso wie vor fünfhundert Jahren, als Carpaccio das in der Accademia hängende Bild vom Wunder der Reliquie malte. Dieses Gemälde ist durch die Vertikale organisiert: Brückenpfeiler, Häuser, Kamine, Altane, selbst die in ihren gondole vornehm sitzenden Herrschaften sind so ausgerichtet. Einzig die gondolieri bringen Bewegung in die Komposition. Die eng anliegenden Beinkleider, die knappen Westen, die federgeschmückten Kappen betonen die Dynamik ihrer Körper, die der Richtung der schräg geführten Stangen folgen. Die Leinwand aus dem quattrocento zeigt sie als die eigentlich Handelnden. Und obschon die Knechte ihre Herren ernst und treu durchs Lagunenwasser geleiten, scheint die Darstellung im Keim die Möglichkeit zu enthalten, daß die Verabredung zwischen oben und unten jederzeit gekündigt werden könnte.
Was denken wohl die heutigen gondolieri über ihre heutigen Fahrgäste, wenn sie sie – vier bis fünf Gondeln auf einer Höhe – unter dem Ponte Rialto hindurchbugsieren und ein Sänger unter lärmendem Beifall kitschige Zweisamkeitsserenaden zum besten gibt?
Das venezianische Leben vollzieht sich von der Wiege bis zur Bahre im öffentlichen Raum: Der Rückzug ins privatissimo auf vier Rädern ist nicht möglich. Und Straßen und Plätze kennen keine Verkehrstoten. So werden schreiende Säuglinge von ihren Müttern und Großmüttern mal eben vor die Haustüre getragen, in der Hoffnung, die schnelle Licht- und Luftveränderung möge sie beruhigen.
Daheim bleiben müssen auch die zwei Mädchen auf dem Campo dei Mori im Cannaregio nicht, es sei denn, man betrachtete den kleinen Platz als ihr Zuhause. Den überqueren sie nämlich – als sei er ihr Kinderzimmer – samt Puppe auf dem Fahrrad.
Auf denjenigen, der das Backfischalter weitestgehend hinter sich hat, wirken Pubertierende meist etwas komisch: ihre Männlichkeit ist etwas zu männlich, ihre Weiblichkeit zu weiblich. Der Junge, hochaufgeschossen, im auffällig zitronengelben Sakko, sitzt mit lässig nach vorne gebeugten Schultern im Café auf dem Campo Santa Maria Formosa, raucht mit großer Geste und gibt seinem Mädchen Feuer. Auch es ist ganz die Erwachsene, von kräftiger Statur, mit starkem Make-up, dick gezogenem schwarzem Lidstrich und einer Ring-Arie an jedem Finger seiner Kinderhände. Il conto, aufstehen, ein verstohlener Kuß. Gehversuche in der Erwachsenenwelt. Man kann sich vorstellen, daß die beiden in ein paar Jahren, wie alle anderen auch, die Wäsche ihrer Familie mittels einer Seilwinde über Venedigs Kanälen baumeln lassen; die Anzahl der trocknenden Unterhosen zeigt dem Flaneur in etwa an, wieviel Köpfe die Familie wohl zählen wird. Wie das Wäschetrocknen geschieht auch das Zeitunglesen unter freiem Himmel, am schönsten als gemeinsame Lektüre von Mann und Frau auf dem hinteren Rondell eines vaporetto.
Die „Woche des älteren Mitbürgers“ würde in Venedig wahrscheinlich nur Achselzucken hervorrufen. Man trifft sich eh! In den Straßencafés, auf Bänken unter schattigen Bäumen, an Häuserecken. Männergruppen, Frauengruppen, existent lange bevor die emanzipatorischen siebziger Jahre sie bewußt aufs Programm setzten. Man spricht über das Leben, über Politik, das Wetter, die Wohnungseinrichtung der Kinder, über tempi passati und che sarà ... Eine Stadt, die ihre Bewohner nicht schweigsam oder einsam werden läßt: Vedi Venezia e po' discori. Venedig sehen und reden – nicht ganz zufällig lautet so ein venezianisches Sprichwort.
Die Stadt verdoppelt sich, liegt als Abglanz auf dem brackig undurchsichtigen Wasser der Lagune, die senkrechten Fassaden schimmern in der Horizontalen, die Dächer werden zu Fundamenten. Venedigs Wasser wirkt wie Stendhals Spiegel, der sich nun wieder nähert, vermutlich bei der Rückkehr von der Werkstatt zum heimischen palazzo, blinkender Panzer auf zwei Beinen, in dessen Rücken sich Realitätssplitter reflektieren. Die Wirklichkeit im Ausschnitt. Pendelnd zwischen oben und unten, Himmel und Giebel, Wasser und Pflaster widerspiegelnd wie alle und alles dazwischen, Profession und Privatleben, Spektakel und Stille, Kunst und Kitsch, in Schwarzweiß und Farbe, setzt er seinen Weg durch die Serenissima fort, durch die Metropole der Öffentlichkeit, durch „die zivilisierteste Stadt“, wie Stendhal schreibt.
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