AKW Stade: „Lücken im Sicherheitsnachweis“

■ Gutachten weist Mängel, aber keine akute Gefährlichkeit des Reaktors nach

Hannover (taz) – Seit gestern ist die Schlappe amtlich. Der rot-grünen Regierung des Landes Niedersachsen wird es in dieser Legislaturperiode nicht gelingen, das AKW Stade stillzulegen. Ein 600 Seiten starkes Gutachten der Gruppe Ökologie (Hannover) sieht den Reaktordruckbehälter des Kraftwerkes zwar in einem schlechteren Zustand als bisher angenommen. Es bietet aber keine juristische Handhabe, den Betrieb des AKW zu untersagen oder auch nur einzuschränken.

Die Gutachter hatten im Auftrag der Landesregierung vor allem die Versprödung des Reaktordruckbehälters zu untersuchen. Sie kamen einerseits zu dem Schluß, daß sich mit den bisher etwa vom TÜV angewandten Rechenmethoden der Sicherheitsnachweis für das AKW nicht mehr vollständig erbringen läßt. Anderseits konnten sie selbst auch nicht beweisen, daß von dem Reaktor im Störfall Gefahren ausgehen, die juristisch eine Stillegung rechtfertigen. In dem Dauerstreit um einen der ältesten Atomreaktoren Deutschlands ist jetzt wieder der Betreiber, die Veba-Tochter PreussenElektra, am Zug. Sie muß nach Auffassung der Landesregierung versuchen, die Lücken im Sicherheitsnachweis zu schließen, die das Gutachten aufgedeckt hat.

Die Gruppe Ökologie hat Modellrechnungen darüber angestellt, wie sich das durch Radioaktivität belastete Reaktordruckgefäß im Notfall verhält. Als wichtigstes Ergebnis hält das Gutachten fest, daß die Kristallstruktur des Stahls durch den ständigen Neutronenbeschuß schon soweit gelitten hat, daß der Werkstoff heute noch bis zu einer Temperatur von 200 Grad Celsius spröde bleibt – fatal, wenn im Notfall kaltes Wasser einströmt und den Stahlmantel unter diese Marke abkühlt. Zur Bauzeit des Druckgefäßes lag dieser Wert noch bei etwa minus 15 Grad. Der Betreiber hatte für den jetzigen Zustand bisher 10 bis 20 Grad plus angenommen.

Für die Gruppe Ökologie beklagte gestern der Gutachter Helmut Hirsch die mangelnde Kooperationsbereitschaft der PreussenElektra. Sie stellte erst Ende vergangenen Jahres den AKW-kritischen Wissenschaftlern genauere – und für das AKW günstigere – Daten zur Verfügung. Danach sind die erwartbaren Belastungen im Störfall geringer, als bisher anzunehmen war. Die Korrekturen verzögerten den Abschluß der Studie um mehr als zwei Monate. Daß die Gutachter zwar Lücken im Sicherheitsnachweis gefunden haben, nicht aber die Gefährlichkeit des Reaktors endgültig nachweisen konnten, liege nur daran, daß bei Störfallmodellen immer mit den denkbar ungünstigten Bedingungen gerechnet werden müsse, sagte Helmut Hirsch.

Ausgerechnet Niedersachsens Umweltstaatssekretär Jan Henrik Horn, der bei den Landeswahlen nahe Stade für die Grünen kandidiert, mußte gestern die für seine Partei keineswegs frohe Botschaft überbringen. Er erinnerte daran, daß sich SPD und Grüne in ihrem Koalitionsvertrag nur verplichtet hätten, alle „rechtlichen Möglichkeiten“ zur Stillegung von Stade auszuschöpfen. Auf den einst für die Koalition entscheidenden Landesversammlungen der Grünen galt allerdings die Stillegung von Stade als abgemachte Sache, die in ein oder höchstens zwei Jahren vollbracht sein sollte. Jürgen Voges