: Therapeutische Übersetzer gesucht...
■ Kontroverse zwischen Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie
Der Konflikt ist eigentlich beigelegt: „Ich würde gerne beim Kinder- und Jugendnotdienst hospitieren“, waren die abschießenden Worte des UKE-Psychiaters Hans Koberg auf einer Veranstaltung der Hamburgischen Gesellschaft für soziale Psychiatrie (HGSP). Zuvor hatte Charlotte Köttgen vom Jugendpsychiatrischen Dienst des Amtes für Jugend eindrucksvoll mit Zahlen belegt, wie schlecht ihre und wie üppig dagegen Kobergs Dienststelle ausgestattet ist: Den 7000 Krisenmeldungen, die jährlich beim Kinder- und Jugendnotdienst einlaufen, stehen grade mal viereinhalb Psychologenstellen gegenüber. Um die 158 jungen Patienten in der Jugendpsychiatrie mühen sich hingegen zehn bis zwölf Ärzte und sechs Psychologen.
Doch der Streit hatte ganz anders begonnen. Im Sommer 1992 war es zum Eklat gekommen, weil ein von den Medien zu „Kindergangster“ hochstilisiertes Crash-Kid kurzerhand in die Erwachsenenpsychiatrie eingeliefert worden war. Die dortigen Schwestern verfaßten einen Protestbrief an die Klinikleitung. Und Kinderpsychiater Koberg wurde öffentlich mit den Worten zitiert, eine faßbare psychische Krankheit gebe es bei diesem Kind nicht.
„Das Kind war damals gefährdet, sich selbst oder andere umzubringen“, wiederholte Köttgen ihre Überzeugung. „Das war damals eine eindeutig politische Einweisung,“ hält Koberg entgegen. Zugleich aber räumt er ein, in den letzten zwei Jahren sei ihm keine weitere fachlich nicht gerechtfertigte Einweisung von Kindern aus der freien Jugendhilfe untergekommen. Sie habe allein in den letzten vier Monaten sieben Mal eine Zwangseinweisung mit Hilfe von Gesprächen verhindert, ergänzte Charlotte Köttgen.
Also alles in Ordnung? Mitnichten. „Es gibt soviel Elend, da kräht kein Hahn nach“, regt sich die Psychologin auf; um die Crash-Kids vor zwei Jahren sei dagegen ein Riesengeschrei gemacht worden.
Die rund 3000 Kinder, die in öffentliche Erziehung kommen, hätten in der Regel schon mindestens eine Trennung von ihren Ursprungseltern hinter sich und wären nicht mal als Säugling ordentlich beschützt worden. Diese frühkindlichen Verletzungen hätten später, wenn sich das Kind bei Pflegeeltern oder in der Obhut eines Erziehers befindet, Reaktionen zur Folge, die nur mit Hilfe eines „therapeutischen Übersetzers“ entschlüsselt werden können.
Die Kinderpsychologin nannte das Beispiel eines Fünfjährigen, der offentsichlich als Kleinkind sexuell mißbraucht wurde. Der Junge habe durch aggressive Gebärden auf sich aufmerksam gemacht. Die Erzieher seien ratlos gewesen, nur durch Zufall sei eine Psychologin auf das Kind aufmerksam geworden und darauf gekommen, daß dem Jungen ein Erwachsener fehlt, der ihn in Arm nimmt und beschützt, ohne sexuelle Absichten.
Köttgen: „Es gibt viele verletzte Kinder. Aber nur wenige, die uns das so um die Ohren schlagen, daß sie keiner mehr will“. Für diese Gruppe – jährlich 10 bis 12 Kinder – müßte ein neues „Betreunngs-Set“ finden. Gerade in Zeiten härter werdender Umverteilungskämpfe müsse es gemeinsame Aufgabe von Jugendhilfe und Jugendpsychiatrie sein, Hilfen für Kinder zu entwickeln, die keinen gesicherten familiären Hintergrund haben.
Mediziner Koberg gab den Ball zurück: die Zahlengegenüberstellung sei nicht zulässig. Den Krankenhaus sei immer noch Krankenhaus, und Psychiatrie nur für solche Krisen zuständig, in denen es zu einer geistigen Verwirrung kommt. „Wenn alle diese Kinder zu uns kommen, werden sie psychiatrisiert.“ Kaija Kutter
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