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StadtmitteWas ist die Literatur uns wert?

■ Gegen eine Verhökerung des Literarischen Colloquiums

Es gibt Orte, die mit der Kulturgeschichte eines Landes oder einer Stadt zu einem Grad verknüpft sind, daß sie eine Epoche dieser Geschichte symbolisieren. Ein solcher Ort ist zum Beispiel die Villa von Lion und Martha Feuchtwanger in Santa Monica. Dort, im kalifornischen Exil, trafen sich Brecht, Adorno, Marcuse, Thomas Mann, Schönberg und viele mehr: der in die Flucht geschlagene geballte gute Geist der Weimarer Republik. Vor kurzem konnte diese Villa mit Berliner Lotto-Geldern von der University of California zurückgekauft werden, die das Anwesen auf dem Immobilienmarkt anbieten wollte. Es ist der Weitsicht Berliner Politiker, allen voran Diepgen und Landowsky, zu verdanken, daß dieser Rückerwerb gelang.

In der letzten Woche wurden wir mit einer Nachricht konfrontiert, die – sollte sie so stimmen – für das Gegenteil, für trostlose Kurzsichtigkeit spricht. Angeblich steht das Literarische Colloquium Berlin (LCB) „auf der Dispositionsliste“ des Senats. Offenbar haben einige Rechenkünstler, bemüht um „die Erhaltung der finanzpolitischen Fähigkeit Berlins“ (einschlägiger Jargon), das krämerisch richtige und kulturpolitisch fatale Szenario erstellt, daß ein Verkauf des Seegrundstücks samt Gründervilla, in der das LCB seit 1963 untergebracht ist, einen Betrag einspielen könnte, der den Druck der Sparzwänge auf den Schultern des Kultursenators lindern könne.

Das LCB gehört, wie die Villa der Feuchtwangers, zu den symbolträchtigen Orten. Hier findet seit dreißig Jahren deutsche und internationale Literaturgeschichte statt. Hier tagte die „Gruppe 47“. Hier haben die Übersetzer, die Verleger, die kleinen Literaturen ihr Forum. Hier treffen die Gäste des DAAD, György Konrad, Breyten Breytenbach, Susan Sontag oder V.S. Naipaul mit ihren Berliner Kollegen zusammen. Hier wurde der „Tunnel über der Spree“ neu gebaut und an einem reißfesten Netzwerk mit den Literaturen Mittel- und Osteuropas gewirkt. Hier dachten Charles Olson und John Ashbery über das Gedicht nach. Hier diskutierten Italo Calvino, Octavio Paz und Uwe Johnson. Hier betrachteten die bedeutendsten Autoren Afrikas, Chinus Achebe und N'Gugi wa Thiongo, „Europa von außen“, in einem von LCB und DAAD gemeinsam konzipierten Programm, als Berlin europäische Kulturhauptstadt war. Dieser Ort am Wannsee ist nicht nur junge und jüngste Literaturgeschichte; er ist in die Literatur selbst eingegangen. Wir finden ihn in dem Kollektiv-Roman „Das Gästehaus“, in den Gedichten Jürgen Beckers, in den „Eisenherzbriefen“ Gerhard Falkners, in dem Roman „Halluzination in Berlin“ des türkischen Schriftstellers Demir Özlü. Es ist in der Tat, wie Kultursenator Roloff-Momin kürzlich zum 30. Geburtstag formulierte, „eine unantastbare Institution“. Wir müssen dem Senator die Munition liefern, um sich auch weiterhin gegen die um sich greifende Krämermentalität durchzusetzen.

Die Hysterie des Ausverkaufs, die Bereitschaft, Tradition bedenkenlos zu veräußern, erinnert an die Hysterien, die den bösen Geist der Weimarer Zeit mit ausmachten. Was ist uns ein Ort der Geschichte wert? Kann ein Objekt zu wertvoll sein für die Berliner Kultur? So daß es zu entäußern ist, um es vielleicht, wenn auf die sieben mageren Jahre die sieben fetten folgen, um ein Vielfaches zurückzuerwerben? Ist es von den Politikern zuviel verlangt, sich eine Ethik zuzulegen? Wir wollen nicht verkennen, daß gespart werden muß. Wir müssen aber auch feststellen, daß es Heuchelei auf den verschiedensten Ebenen gibt, unter den Ressorts (der Finanzsenator gibt die Sparquote vor, nicht aber, wie und woran zu kürzen ist) und unter den Kulturinstitutionen selbst. Als das Schiller Theater geschlossen wurde, gab es solidarische Lippenbekenntnisse der anderen Theaterleiter. Mehr nicht. Es gibt nicht nur keine Solidarität zwischen den Sparten, es gibt auch keine Solidarität innerhalb einer Sparte. Wenn wir uns vor Augen halten, daß 1994 die Fehlbeträge der drei Opernhäuser insgesamt rund 225 Millionen voraussichtlich betragen werden, das LCB dagegen nicht einmal 900.000 Mark benötigt, so dürfen wir uns doch fragen, ob es ein Riesenunglück ist, wenn die Opernhäuser nur noch sechs oder fünf Tage in der Woche spielen und wenn auf Lasermätzchen, Supergagen und handvernähte Ausstattung auch noch des letzten Statisten verzichtet würde? Eine Stadt wie Berlin verträgt drei Opernhäuser, aber sie sollten gemeinsam einen Sparplan entwickeln und nicht so tun, als sei das genannte Defizit eine quantité négligeable. Eine Stadt wie Berlin verträgt auch und gerade mehrere Literaturhäuser, neben der Mitte (Literaturhaus Fasanenstraße) auch die Orte an der Peripherie, in Pankow und am Wannsee. Das LCB ist das traditionsreichste von ihnen, es gibt Impulse weit über die Stadtgrenzen hinaus. Es muß vor der Krämermentalität geschützt und an seinem Ort erhalten werden. Joachim Sartorius

Der Autor ist Direktor des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD.

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