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Wer erschoß Fetih Akdeniz?

Der Assyrer starb im Juni 1992 durch einen Genickschuß. Die christliche Minderheit im Osten Anatoliens gerät im Krieg zwischen der PKK und türkischem Militär zwischen die Fronten  ■ Aus dem Tur Abdin Björn Blaschke

Mittwoch, 17. Juni 1992: Gegen 20.30 Uhr läßt der 64jährige türkische Staatsbürger Fetih Akdeniz* die Läden seines Teehauses herunter und verschließt die Tür. Um den Hals trägt er eine handgearbeitete Kette mit einem Goldkreuz. Fetih Akdeniz ist syrisch-orthodoxer Christ – Assyrer. Bei sich trägt der hochgewachsene Mann mit dem grausilbernen Vollbart den Tagesumsatz und eine wertvolle, perlmuttbesetzte Pistole, ein Erbstück des Großvaters. Um 20.40 Uhr gellt ein Schuß durch die Stadt Midyat. Später wird die Leiche von Fetih Akdeniz gefunden. Die Todesursache ist ein Genickschuß. Augenzeugen gibt es keine ...

Mehr als eineinhalb Jahre später. Über der hügeligen Landschaft des „Tur Abdin“, den „Bergen der Diener Gottes“, beginnt es langsam zu dämmern. Es ist fünf Uhr früh, als der Bischof des syrisch-orthodoxen Klosters Mar Gabriel (Sankt Gabriel), Samuel Aktas, zum Gottesdienst in das 20 Kilometer entfernte Midyat aufbricht. Fetih Akdeniz ist mit dem Bischof zur Schule gegangen. Später zog er sich oft hinter die dicken Mauern des nahe der türkischen Grenze zu Syrien und dem Irak gelegenen Klosters zurück.

Die Straße nach Midyat ist an vielen Stellen aufgerissen, Schlaglöcher zwingen den Fahrer des Bischofs zu waghalsigen Manövern. Zwei Militärkontrollen müssen sie passieren – jeder ist hier verdächtig, für die militante „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) zu arbeiten. Während der Fahrt erzählt Aktas von der Geschichte der syrisch-orthodoxen Christen. Für fast 800 Jahre waren die Assyrer eine bestimmende Gruppierung unter den Christen. Ihr langsamer Untergang setzte im dreizehnten Jahrhundert ein, als der Mongolenführer Timur Lenk mit seinen Horden brandschatzend und mordend gen Westen stürmte. In dieser Zeit begann der erste große Exodus der syrisch- orthodoxen Christen aus dem Tur Abdin. Unter dem Schutz des relativ toleranten Systems der Osmanen konnten die Assyrer im Tur Abdin dann wieder bis zum Ende des vergangenen Jahrhunderts ihre Kultur frei entfalten. Sieben Kirchen gibt es aus dieser Zeit noch in Midyat, aber nur noch einen Pfarrer. An jedem Sonntag hält er die Messe in einer anderen Kirche, damit der türkische Staat sie nicht zur Moschee umfunktioniert.

Der in einen roten Brokattalar gekleidete Pfarrer und seine zwei Messdiener singen abwechselnd die monotone Liturgie. Die Messe wird auf Aramäisch, der Sprache der syrisch-orthodoxen Christen, gehalten. Die Luft in der Kirche ist von dem schweren, süßlichen Duft verbrannten Weihrauchs durchdrungen. Die Frauen sind in den hinteren Teil des Kirchenschiffs verbannt. Am Ende des vierstündigen Gottesdienstes treten nur die etwa 50 Männer an den Altar heran, um die alte, mit Silber eingeschlagene Bibel zu küssen. Bischof Samuel Aktas segnet jeden Einzelnen. Danach verteilt er im schattigen Innenhof der Kirche mit dem Pfarrer zusammen Brot und Weintrauben. Auf der anderen Seite des gußeisernen Tores zum Kirchenhof schießen währenddessen zwei Jungen mit einem Luftgewehr auf Wassermelonen.

In der Stadt kursieren mysteriöse Geschichten über die Umstände des Todes von Fetih Akdeniz. Obwohl der Juni in der Region eigentlich der heißeste und trockenste Monat ist, habe es wenige Minuten nach dem tödlichen Schuß zu regnen begonnen, heißt es. Drei Tage und Nächte lang habe der Regen die Gassen der Stadt überschwemmt und auch den letzten Tropfen von Fetihs Blut weggespült.

Alfred Akdeniz, der in der Schweiz lebende Sohn des Opfers ist in die Türkei geflogen, um herausfinden, wer seinen Vater getötet hat. Mehr als Gerüchte und die Geschichte von dem Regen bekam er nicht zu hören. Die offizielle Version von einem Raubmord schließt er jedoch aus. Die Täter hätten ihrem Opfer zwar den Tagesumsatz abgenommen, aber die wertvolle Pistole zurückgelassen.

Die Mutter von Fetih, Rose, lebt in einem der alten christlichen Herrenhäuser auf dem Hügel von Midyat. Die ganz in Schwarz gekleidete Frau weiß nicht, wie alt sie ist. Als sie geboren wurde, führte die Gemeinde noch kein genaues Taufregister. Rose weiß nur, daß ihre Ahnen väterlicherseits vor rund 250 Jahren aus der fast 200 Kilometer entfernten Stadt Urfa in den Tur Abdin gekommen sind. Die Familie ihrer Mutter hingegen hat ihre Wurzeln in der irakischen Stadt Mossul. Nach Fetihs Tod ist Rose das einzige in Midyat verbliebene Mitglied der Familie Akdeniz. Alle andern sind bereits in den Jahren zuvor ausgewandert – nach Istanbul, in die USA, nach Kanada oder nach Europa.

Fast täglich besucht Rose das Grab ihres Sohnes. Jedes Mal muß sie drei Kilometer weit über einen steinigen, mit Dornenbüschen gesäumten Weg gehen, um den auf einem kleinen Hügel gelegenen christlichen Friedhof zu erreichen. Vor der Familiengruft bleibt Rose stehen. Zahllose Namen sind in die weiße Marmorplatte eingraviert, aber unter dem Datum 17. Juni 1992 steht nicht der türkische Name Fetih Akdeniz, sondern: Gabriel Rhawi. Rhawi, erklärt Rose, sei der aramäische Name für Urfa, die Stadt, aus der ihre Familie stammt. Gabriel sei Fetihs christlicher Taufnahme. „Früher hießen wir immer Rhawi!“ Früher, das war vor der Zeit zwischen 1895 und dem Ende des Ersten Weltkrieges. Damals brachte die osmanische Armee zusammen mit verschiedenen kurdischen Stämmen, denen zuvor Autonomie versprochen worden war, fast zwei Millionen Armenier und viele tausend Assyrer um. Nach der Gründung der Türkischen Republik im Jahr 1923 erhielten alle Menschen, Dörfer und Städte türkische Namen, denn nichts sollte der zukünftigen Einheit der Türkei im Wege stehen. Die meisten Assyrer flohen ins Ausland.

„Wer mehr über uns Rhawis wissen will“, meint Rose, „muß zum Kloster gehen. Ihm zu Ehren habe ich schließlich meinen Sohn Gabriel getauft.“ Seit Beginn des Krieges zwischen dem türkischen Staat und der PKK im Jahr 1984 verirren sich nur noch selten Gäste nach Mar Gabriel. Das Klosterareal umfaßt einen riesigen „Garten“, in dem die Bewohner Gemüse und Obst anbauen. Vor 400 Jahren aber war dort eine Kleinstadt angesiedelt. Erst kürzlich haben Arbeiter Grundmauern von uralten Häusern entdeckt. Einige sind durch Geheimgänge direkt mit dem Gewölbe des Klosters verbunden. Stolz zeigt Bischof Samuel Aktas Besuchern die Reliquiensammlung, die sich in den unterirdischen Räumen des Klosters befindet. Mehr als 10.000 Überreste heilig und selig Gesprochener werden in dem Sandsteingemäuer aufbewahrt. In einem größeren Saal, den grelle Neonröhren beleuchten, sind die Wände mit lebensgroßen Gemälden geschmückt – biblische Motive im modernen Stil. Die Bilder hat ein irakischer Flüchtling gemalt, der während des zweiten Golfkrieges nach Mar Gabriel kam. Beiläufig erzählt der Bischof, daß Fetih Akdeniz dem Maler bei der Flucht aus dem Irak geholfen habe. Insgesamt habe Fetih 170 irakische Christen nach Mar Gabriel und Midyat gebracht. Fast alle von ihnen sind mittlerweile ausgewandert.

„Wer wird wohl in zehn Jahren noch über dieses Kloster erzählen?“, fragt Aktas leise. Seit der letzten großen Fluchtwelle in den achtziger Jahren leben nur noch knapp 200 christliche Familien im Umkreis des Klosters. Der fast zweitausend Jahre alten assyrischen Kultur des Tur Abdin droht das Ende. Bis zu dem großen Massaker an den Christen zu Beginn des Jahrhunderts haben alle Kinder des Tur Abdin in dem Kloster die aramäische Schrift gelernt. Jetzt erhalten nur noch der spärliche Priesternachwuchs und ausländische Gäste Unterricht – trotz eines offiziellen Verbotes. Die assyrische Kultur und das Aramäische zersetzten das türkische Kultur- und Sprachgut, heißt es in Ankara. Viele Assyrer können deshalb heute ihre eigene Bibel nicht lesen. Die Assimilationsbestrebungen der türkischen Regierung haben zur Folge, daß sich das christliche Lager gespalten hat. Viele jüngere Leute haben aus der Unterdrückung heraus ein starkes assyrisches Selbstbewußtsein entwickelt. Die türkischen Militärs reagieren darauf mit dem Vorwurf, die Christen im Tur Abdin kollaborierten mit der PKK. Weniger aufmüpfige Assyrer werden dagegen – genau wie Kurden – von den türkischen Militärs dazu angehalten, als sogenannte Dorfschützer für die Regierung zu arbeiten. Neben einem monatlichen Sold von umgerechnet 400 Mark bekommen sie Gewehre und Munition. Hunderte solcher Agenten arbeiten heute rund um Midyat und Mar Gabriel herum für die Militärs. Im Gegenzug überfällt die PKK nachts immer wieder Dorfschützer. Ein Standgericht der Guerilla urteilt die „Verräter“ ab, die Hinrichtung folgt in der Regel sofort.

Daß auch Fetih Akdeniz als Agent für die türkische Regierung gearbeitet haben könnte und einem Racheakt der PKK zum Opfer gefallen ist, hält sein Sohn Alfred für ausgeschlossen. Schon die Art der Erschießung spreche dagegen: Die PKK verbinde im allgemeinen ihren Gegnern die Augen, bevor sie sie mit einer Gewehrsalve erschieße.

Während der Tag zu Ende geht, sitzen Samuel Aktas und die drei Mönche in dem Gemeinschaftsraum des Klosters. Immer mehr Menschen aus der Region schließen sich den zwei türkischen Contra-Bewegungen an, berichtet der Bischof. Die eine nennt sich Hizb'ikontra; die andere trägt denselben Namen wie eine aus dem Libanon bekannte Schiitenmiliz: Hizb'allah. Unter dem duldenden Schutz der Militärs exekutieren beide angebliche Oppositionelle aller Couleurs – Kurden und Aleviten ebenso wie Journalisten. Die Hizb'allah verschickt immer wieder Drohbriefe an christliche Familien, in denen die Adressaten aufgefordert werden, das „islamische Land Türkei“ zu verlassen. Auch der Bischof erhält regelmäßig solche Drohungen. Aus Angst, ermordet oder verschleppt zu werden, fährt er nur noch selten nach Midyat. Erst vor wenigen Tagen wurden der Bürgermeister des oberen Stadtbezirks, Jakoub Matte und ein Begleiter vermutlich von einem Trupp der Hizb'allah aus ihrem Kleinbus gezerrt und erschossen.

Aktas und Alfred Akdeniz vermuten, daß auch die Ermordung von Fetih Akdeniz auf das Konto der Hizb'allah geht. Weil er die Christen aus dem Irak herausschmuggelte, habe Alfreds Vater mehrmals Drohbriefe erhalten, weiß der Bischof zu berichten. Zuletzt seien diese sogar mit Blut geschrieben worden. Fetih Akdeniz habe die Drohungen jedoch in den Wind geschlagen. Ein gezielter Schuß in das Genick – die typische Hinrichtungsmethode der Hizb'allah – sei die blutige Konsequenz gewesen.

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