piwik no script img

Des Volkes Wille werde vollstreckt Der Protestwähler

Bis zum 16. Oktober müssen alle Schlammschlachten geschlagen sein, dann ist Bundestagswahl. Wer aber sind sie, die 60,2 Millionen, die an diesem Tag ihr Kreuzchen aufs Papier malen? Das Stimmvolk – eine Charakteristik der Wählertypen

Früher, da war sowieso alles besser, insbesondere aber auch die Wahlforschung, Prognostik und Analyse einfacher: Es gab Stamm-, Wechsel- und Nichtwähler sowie die zugehörigen zwei Volksparteien und ihr Koalitionspartner.

Früher – das war vor dem Auftreten des Protestwählers in den mittleren Einkommensgruppen männlicher Großstadtbewohner. Weil die Überlebensbedingungen dort schwierig, das Milieu aber überaus anpassungsfähig ist, müssen wir 1994 nicht nur mit sehr vielen, sondern auch noch sehr unterschiedlichen Protestwählern rechnen. Interessant sind z.B. die Wechselwähler unter den Protestwählern: In den großen Städten können sich solche etwa bei den Kommunalwahlen aus Protest gegen die mangelhafte Medienpräsenz der bei den letzten Landtagswahlen gewählten Rechtsparteien für eine der vielen Statt-Parteien entscheiden.

Bei der anschließenden Bundestagswahl werden sie sich dann aus Protest dagegen, daß sich auch die Statt-Parteien letzten Endes auch wieder nur als Parteien und nicht als starke Bewegung erwiesen haben werden, doch wieder für ihre Ursprungsprotest-Partei entscheiden.

Schwierig, aber letzten Endes günstig gestaltet sich auch das Verhältnis von Protestwahl und SPD: Während z.B. die traditionelle Arbeiterschicht dem SPD-Kandidaten Scharping ihre Stimme aus Protest gegen die rot-grüne Politik in manchen Bundesländern geben wird, werden die Jusos, die ja traditionell eher grün wählen, diesmal jedoch aus Protest gegen die gelegentlichen schwarz-grünen Töne ihres Helden Joschka Fischer für die Mutterpartei entscheiden.

Manche Traditionskonservative werden aus Protest gegen große Koalitionen zwar nicht mehr CDU wählen, gleichzeitig aber aus Protest gegen Schönhuber, der für das schlechte Ansehen Deutschlands im Ausland verantwortlich gemacht wird, Volkspartei wählen wollen. Aber auch die CDU kann vom Unmut profitieren: Aus Protest gegen Schwaetzer werden verstärkt Bauunternehmer, aus Protest gegen Möllemanns Mittelstandsförderungskurs etliche Großunternehmer sich für Kohl entscheiden. Daß aus Protest gegen ihre 68er-Lehrer viele Jungwähler sich für die CDU entscheiden werden, ist dagegen unwahrscheinlich, denn der typische Jungwähler und seine Geschlechtsgenossin protestieren nicht, sie sind verdrossen.

Der Nichtwähler kommt aber nicht nur auf dem Land, sondern hier oft auch in Gestalt der Nichtwählerin zunehmend in der Stadt, besonders in sogenannten „Unser Viertel“-Vierteln, vor. Anders als die Mythenbildung will, tragen diese Nichtwähler schon lange keine Haßkappe mehr, sondern sind vor allem entnervt. „Deutschland, halt's Maul“ ist ihre Parole. Wenn sie etwas weniger entnervt sind als die meisten anderen Autonomen, schreiben sie ihre Parole auch auf den Stimmzettel – aus Protest dagegen, daß die Parteien auch für nicht abgegebene Stimmen fünf Mark bekommen.

Als besonders raffinierter Schachzug erweist sich angesichts des Protests und des von Verdrossenheit bestimmten Wahlverhaltens die Entscheidung des Gesetzgebers, nicht auch noch die Ausländerinnen und Ausländer an die Urnen zu lassen:

So erhält man sich ein Potential von mehreren Millionen Menschen, die irgendwann einmal, wenn sie denn nur dürfen, das bis dahin erschöpfte deutsche Protestwählerpotential begeistert und voll frischer Energien aufzufüllen in der Lage sind.

Oliver Tolmein,

freier Journalist, lebt in Hamburg

Der untadelige Stimmbürger

In den achtziger Jahren war es die Wechselwählerin, die als herausragende Gestalt in der Wählerlandschaft die Wahlforscher elektrisierte. In den neunziger Jahren ist es der Nichtwähler, der uns allen die prognostische Suppe zu versalzen droht und die Demokratie auf eine immer schwächer werdende Legitimation verweist.

Nur von ihm ist immer seltener die Rede, obwohl es ihn durchaus und immer noch gibt: in alter und neuer Treue, doch stets zum Urnengang bereit – der untadelige Stimmbürger, der heuer am liebsten bei allen zirka 19 Schicksalswahlen sein Kreuzchen machen würde. Doch nur, um das einfach mal klarzustellen, in Mecklenburg- Vorpommern, in Sachsen-Anhalt und Thüringen und vielleicht noch im Saarland ist er ganze viermal dabei: bei der Europawahl, bei der Bundestagswahl sowie bei Landtags- und Kommunalwahlen. Viele der anderen untadeligen Stimmbürger, etwa in Hessen, müssen sich damit begnügen, zur Europawahl am 12. Juni den Schuß vor den Bug zu geben und im Oktober bei der Bundestagswahl zur Entscheidungsschlacht anzutreten. Zu wenig für einen Wähler, der seine Aufgabe ernst nimmt? Kommt darauf an.

Denn der untadelige Stimmbürger zerfällt, wie kann es auch anders sein, in eine Ausgabe Ost und eine Ausgabe West. Im Osten Deutschlands, so mag man sich vorstellen, führt er einen einsamen Feldzug gegen die dort mittlerweile vorherrschende ressentimentgeladene Resignation in Sachen Demokratie. Trotzig investiert er Hoffnung in die Kommunalpolitik als Wiege demokratischer Bürgerbestimmung, investiert er seine Stimme bei den Landtagswahlen, vielleicht gar in Thüringen, um nachdrücklich der sich im Lande verbreitenden Stimmung entgegenzutreten, Politik sei doch nichts anderes als ein schmutziges Geschäft. Unser realexistierender Held des beständigen Wahlgangs nämlich denkt nicht daran, die Politik und vor allem natürlich die Politiker aus der Erwartung zu entlassen, die Bürger an sie stellen dürfen: denn nicht nur in ihrer Abwahl, auch in ihrer Wahl liegt des Wählers Macht. Weshalb der untadelige Stimmbürger im Osten womöglich sogar der Forderung eines vermessenen Sozialdemokraten nach Wahlpflicht für jeden Staatsbürger zustimmen würde: gerade im Osten sei schließlich jeder gehalten, mit der endlich eroberten Demokratie pfleglich umzugehen und sich der Verantwortung fürs Wahlergebnis nicht durch Wahlenthaltung zu entziehen.

Guter, braver, untadeliger Stimmbürger. Eine demokratische Lichtgestalt? Oder doch nur jemand, der schon zu Honeckers Zeiten begeistert Wahlzettel falten gegangen ist? Im Westen wäre dieser Typus wahrscheinlich umgehend als sturer Spießer identifiziert, dem kein besserer und farbiger Beitrag zum Gemeinwesen einfällt als das Kreuzchenmachen. Moderne und aktive Bürger gründen darüber hinaus mindestens eine Krabbelstube oder eine Lichterkette oder doch wenigstens eine neue Partei. Denn der untadelige Stimmbürger, das ist wahr, ist meistens nicht nur dem Wahlakt als solchem treu, sondern auch einer, nämlich seiner Partei: er gehört gern zum Typus des Gesinnungstäters, ist ein von Milieu, Herkommen, Religion und Weltanschauung zur lebenslangen Parteitreue getriebener Überzeugter und damit eine gänzlich unmoderne Erscheinung.

Womöglich lauert indes auch hinter seiner unscheinbaren Fassade – denn er ist mehrheitlich männlichen Geschlechts – ein echtes Schlitzohr, ein Schalk im biederen Gewand. Er erinnert mit der sturen Beständigkeit seiner Stimmabgabe an einen alten, einen uralten Vertrag zwischen Bürger und Politik: der Bürger darf, nach dem Wahlakt, die Verantwortung delegieren und künftig privatisieren. Politiker müssen die ihnen daraus erwachsene Pflicht erfüllen. Der untadelige Wahlbürger fordert, daß Politik sui generis geschehe – egal, wie emanzipiert das Wahlvolk sich in seiner Freizeit gibt.

Und das ist in unseren Zeiten der Politikverdrossenheit schon nachgerade wieder subversiv.

Cora Stephan, Publizistin,

lebt in Frankfurt/Main

Der

Nichtwähler

Wer sagt denn, daß man wählen gehen muß? Es gibt zahlreiche Gründe, auf das zu verzichten, was man, steif und anrüchig, den „Urnengang“ nennt.

Die „Partei der Nichtwähler“, von der die Demoskopen reden, existiert nicht. Da ist zunächst der Apathiker, nennen wir ihn Franz Schlaff, der sich am Sonntag echt Besseres vorstellen kann, als zur Wahl zu gehen: richtig ausschlafen, einen draufmachen, den ganzen Tag die Beine lang machen. Für Politik kann sich Herr Schlaff ums Verrecken nicht interessieren, er ist froh, wenn ihm drei lebende Politiker einfallen. Frau Faul ist da aus anderem Holz: Sie weiß ganz gut Bescheid, kennt die Wechselspielchen von Regierung und Opposition und hat von der amtierenden Regierung aus guten Gründen genug. Aber wählen geht sie nicht, das tun ja die anderen. Sie hat die Umfragen gelesen und weiß ungefähr, wie die Sache ausgehen wird. Frau Faul läßt wählen: eine Trittbrettfahrerin, die selber kein Ticket löst, weil sie das kollektive Gut, den vermutlichen Wahlausgang, auch so bekommt. Wenn die Sache schief geht, hat sie halt Pech gehabt. Dieses Risiko geht Herr Provo nicht ein. Er ist ein hartgesottener Protestwähler, der es allen zeigen will. Er will diese Regierung nicht und auch keine andere. Darin hat er schon Übung, und im Superwahljahr kommt besondere Freude auf, wenn die Elefantenrunde ein dutzendmal über die aus Protest Zuhausegebliebenen schimpft, die die bewährten Volksparteien verschmäht haben. Zu soviel Engagement im Desengagement ist Famile Redupers nicht mehr fähig: Resigniert, schon seit Jahren arbeitslos und von Sozialhilfe lebend, können sie für Parteien kein Interesse mehr aufbringen, die Signale der Politik sind unlesbar. Wer ewig an der Nabelschnur der Wohlfahrtsbürokratie hängt, wird irgendwann zum politischen Analphabeten. Als letzte Gruppe die Leute von ganz rechts und ganz links, die das parlamentarische Ritual insgesamt verachten und die ganze Wählerei abschaffen wollen: ein Führer, eine Partei, eine starke Hand jedenfalls soll sagen, wo es langgeht.

Mit all diesen Leuten hat Karla Klug, die intelligente Nichtwählerin (die jetzt Zeitung liest), nichts zu tun. Bewußte Nichtwähler ihres Typs sind weder apathisch noch verdrossen, auch nicht aggressiv oder gegen die Demokratie schlechthin. Sie senden ein hochpolitisches Warnsignal aus: Herhören in Bonn, Hannover oder Brüssel, wir machen eure symbolischen Spielchen nicht mit, wir wissen, daß die Musik anderswo spielt, wir mischen uns auf andere Weise an anderer Stelle ein – Wahlenthaltung als Ouvertüre zivilen Ungehorsams.

Alle Motive, nicht wählen zu gehen, sind nachvollziehbar. Demokratien erlauben die Freiheit des Desinteresses. Trittbrettfahrerei praktizieren wir in vielen Situationen als rationale Wahl. Wer beleidigt zu Hause bleibt, ist jedem vorzuziehen, der zum Dampfablassen Schönhuber oder noch Schlimmeres wählt. Nichtwähler brauchen keinen moralischen Zeigefinger. Muß ich noch betonen, daß ich die Nichtwählerei trotzdem nicht teile, daß ich mich auf das Superwahljahr geradezu freue, weil es wirklich etwas zu wählen und zu bewegen gibt? So sehr und je mehr ich die Motive der Nichtwähler nachvollziehen kann, desto mehr wird mir das Gestelzte und Paradoxe am Verhalten vor allem der bewußten Nichtwähler deutlich: Sie sind es, die Wahlen unheimlich hoch bewerten und symbolisch überladen. Während abgeklärte Routinewähler die Sache hinter sich bringen und sich von weitergehenden Ansprüchen nicht abhalten lassen, geht die Anstrengung der Nichtwähler ins Leere. Denn mögen sie noch so raffiniert sein: Ihre hochbesetzte Abstinenz wird doch nur mit den fahrlässigen Enthaltungen verrechnet, genau wie die Stimmen der couragierten mit denen der desinteressierten Wähler: one man, one vote. Um da herauszukommen, müßten die Nichtwähler schon eine Partei gründen – und wählen gehen. Claus Leggewie lehrt in Frankfurt

Politische Wissenschaften

Der Denkzettelverteiler

Ich verteile nicht Stimmen, ich verteile Denkzettel. – Das fing an, als ich ein junger, wenngleich konservativer Mensch war. Die Christlich Demokratische Union, die meine Mehrheitspartei in meinem Rathaus war, entschloß sich eines Tages zu einem kommunalpolitischen Kurswechsel, den ich nun ganz und gar nicht billigen oder gar nachvollziehen konnte. Ich weiß nicht einmal mehr genau, um was es ging, ob um einen Kinderspielplatz oder eine Kläranlage – mir paßte die ganze Richtung nicht, und ich beschloß, meine Rats-CDU mit Liebes- und Wählerstimmentzug zu strafen und mein Kreuzchen hinter dem Namen einer Freien Liste zu machen, deren Programm und Personal mir völlig unbekannt waren. Tags darauf las ich im Lokalblatt, die Wähler hätten der Mehrheitspartei beim Urnengang einen Denkzettel verpaßt – und ich wußte, ich war dabeigewesen. Das erfüllte mich mit einem gewissen Stolz, und so fieberte ich der nächsten Landtagswahl entgegen, bei der ich fünf Jahre zuvor noch den Liberalen zum Sprung über die Fünfprozenthürde verholfen hatte. Klein, aber etabliert war die FDP, immer gut beim Mitregieren, aber darum auch stets bereit, Wahlversprechen wie lästigen Ballast über Bord zu werfen.

Ich weiß nicht einmal genau, was mich damals an meinen Landes-Liberalen besonders störte, ob es die aufkommende Macht der Maler und Makler war oder ein Liebäugeln mit den Linken – mir paßte die ganze Richtung nicht, und ich verpaßte der Partei meinen Denkzettel, indem ich irgendeiner katholischen Nichtraucherliste oder einem Wahlbündnis evangelischer Vegetarier meine Stimme gab – ich weiß es nicht mehr so genau. Denn keine der Winz-Gruppen kam in den Landtag, aber an meinem Denkzettel hatte die FDP schwer zu schlucken.

Und dann kam der Termin der Bundestagswahl. Ich gestehe, daß ich seit Willys schönen siebziger Jahren Willy gewählt hatte und seine SPD auf Bundesebene, weil ich ja immer schon mehr Demokratie wagen wollte. Doch die Sozialdemokraten bewegten sich, ohne mich zu fragen, immer weiter weg von meinem politischen Standpunkt – ich weiß nicht einmal, was bei mir das Faß zum Überlaufen brachte, das ungenierte Anpeilen der Frauenquote oder die Sache mit der Nachrüstung. Jedenfalls lief auch ich über – zu den ökologischen Demokraten oder zur Europäischen Arbeiterpartei, ich weiß es wirklich nicht mehr. Tatsache ist, daß die von mir gewählte Gruppierung nie auch nur annähernd an die fünf Prozent herankam, aber darum ging es ja nicht: Ich hatte mal wieder in meinen Denkzettelkasten gegriffen und der SPD einen Denkzettel verpaßt. Davon hat sie sich bis heute nicht erholt, während ich meine politische Heimat dort fand, wo man für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen ist, und zwar kompromißlos. Den Grünen galt meine Sympathie, seit sie im Bundestag und im Europaparlament saßen beziehungsweise sitzen. Doch irgendwann, ich weiß es wirklich nicht mehr so genau, konzentrierten sie sich nur noch auf ihre Flügelkämpfe und kümmerten sich nicht mehr um mich. Da habe ich ihnen, bei der Europawahl, meinen Denkzettel verpaßt und Schönhuber meine Stimme gegeben. Aber da muß etwas schiefgelaufen sein, denn die Reps sitzen jetzt im Straßburger Plenarsaal – und das habe ich ja eigentlich gar nicht gewollt. Aber immerhin: Meinen Denkzettel bin ich wieder mal losgeworden am Wahltag, und so habe ich meinen Beitrag geleistet zum Lebenserhalt unseres demokratischen Gemeinwesens.

Friedrich Husemann,

freier Journalist in Bonn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen