Klootschießender Dadaismus der Friesen

Wenn andernorts die Leute lieber daheim bleiben, werden Frieslands Straßen von boßelnden Zeitgenossen bevölkert  ■ Von Uwe Janßen

Jedes Jahr im Januar liefert die Bundesbahn im friesischen Städtchen Varel eine Fuhre Bayern ab. Die Spezln, die bereits bei ihrer Ankunft an der Waterkant strengen Biergeruch verbreiten, schlurfen traditionsgemäß selig singend zum Treffpunkt. 120 Gleichgesinnte aus allen Teilen der Republik erwarten sie bereits in der „Klapsmühle“. Der Name der Kneipe ist Programm: Wir gehen Boßeln.

Boßeln ist Dada. In der „Klapsmühle“ gilt die erfolgreiche Operation des Chirurgen Mathias so wenig wie Birtes Müllentsorgungsprojekte oder die juristische Finesse der Hamburger Richterin Anke. Geselligkeit ersetzt gesellschaftliche Normen. Die „Klapsmühle“ mutiert zum Käfig voller Narren, die neben rekordverdächtigen Mengen Alkoholika vor allem das Bewußtsein genießen, ausnahmsweise nicht als Planstelleninhaber, Unternehmer oder Mandatsträger funktionieren zu müssen. Sie firmieren unter Pseudonymen wie „Zauberzahn“ und „Großer Faß“, „Mini-Möhlmann“ oder „Kautschuk“. Die zwölf Mannschaften für den nächsten Tag werden ausgelost – bunte Kollektive entstehen, Gemenge von Preußen und Bajuwaren, Männlein und Weiblein, Malochern und Managern.

Stunden später. Partytime am Deich. Je zwei der am Vorabend zufällig fusionierten Gruppen spielen gegeneinander. Bewehrt mit um den Hals gehängten Schnapsgläsern und einem anständigen Kontingent entsprechenden Proviants, marschiert die Meute durchs winterliche Norddeutsche Flachland. Jedes Team erhält eine schwarze Gummikugel, den Boßel. Ihn gilt es nun möglichst weit die Straße entlang zu werfen.

Die Sache funktioniert wie folgt: Die Stelle, an der der Boßel liegenbleibt oder von der Straße rollt, ist Abwurfort für den nächsten Werfer des Teams. Beide Mannschaften werfen abwechselnd, so pilgert die Versammlung unter Anbringung möglichst dummer Sprüche im Lauf dieses Nachmittags kilometerweit durch die Landschaft. Es gewinnt, wer die wenigsten Würfe benötigt, aber das ist in diesem Fall bestenfalls fünftrangig. Spaß hat Priorität, Sprit fördert den „Spirit of the Game“, das Opium fürs Volk. Wir sind das Volk.

Aber genug jetzt. Wir Dadaisten sind Frevler. Verräter an der Idee des Boßel-Realismus. Natürlich fasziniert unsere Stilrichtung – nicht von ungefähr gilt dieses Fest unter Kennern mittlerweile bundesweit als Kultveranstaltung. Indes: Bei uns ist Boßeln Mittel zum Zweck. Verfechter der reinen Lehre aber verachten uns, und insbesondere jene Journalisten, die wagen, Boßeln so zu beschreiben, wie gerade geschehen. Solchen Schuften sollte man, so ein Sitzungsprotokoll des Realo-Dachverbandes, „wirklich auf die Finger klopfen“.

Wahrhaftig ist Boßeln, richtig betrieben, eine bierernste Angelegenheit – das Spiel der Küstenbewohner hat sich über die Jahre zum Leistungssport gewandelt. Allein in Oldenburg und Ostfriesland, dem Herrschaftsbereich des Friesischen Klootschießer-Verbandes (FKV), kämpfen an jedem Wochenende der Saison über 40.000 Athleten um Ligapunkte. Verständnis dieses und anderer Phänomene bedingt Beschäftigung mit der Entstehungsgeschichte des Boßelns.

Am Anfang also war die Lehmkugel. Je nach wissenschaftlicher Lehrmeinung wurden diese hartgebrannten Klumpen (niederdeutsch: Kloot) vor rund zweitausend Jahren entweder geworfen, um römische Invasoren und Piraten zu verscheuchen oder – an einer Leine befestigt – um Treibgut aus dem Wasser zu fischen. Wie auch immer, Fakt ist, daß die Ureinwohner eine spezielle und äußerst effektive Technik entwickelten. Diese wurde im Laufe der Jahrhunderte noch verfeinert.

Technischer Fortschritt machte den Kloot als Waffe oder Bergungsgerät überflüssig, er diente seither als Spielzeug. Die Werfer maßen sich unter großer Anteilnahme ihrer Dörfer und Gemeinden im sportlichen Wettstreit, als Siegesprämien wurden „hundert Taler“ ausgelobt oder – notabene – „vier Tonnen Bier“.

Weil jedoch keine einheitlichen Regeln existierten und Alkohol vor zwei Jahrhunderten populär war wie heute, arteten die Prestigekämpfe schon damals in nicht minder dadaistische Veranstaltungen aus. Die Kirche ächtete es wegen „übermäßigen Suffs und Raufereien bis zum Totschlag“ sowie „Schändung des Sonntags“, und auch der Staat ging bereits in dieser Zeit unnachgiebig gegen Chaoten vor. Anno 1731 versuchte Ostfriesenfürst Georg Albrecht erfolglos, das Spiel zu untersagen — wegen „vielerley Unordnungen mit saufen, fressen, schelten, greulich fluchen, schlagen und verwunden und anderem groben, zum Ärgernis frommer Leute und der Jugend zum bösen Exempel dienende Excesse“.

Etwa ein Jahrhundert später, exakt läßt sich der Zeitpunkt nicht belegen, entwickelte sich aus dem Klootschießen das Straßenboßeln. Beide Spielarten erfuhren, so Boßelexperte Helge Kujas in seiner Examensarbeit, mit der er jüngst an der Universität Münster sein Sportstudium abschloß, fortan eine rasante „Versportung“. Vereine entstanden, die Athleten trainierten ernsthaft, denn „ohne Kraft, Schnelligkeit, Technik und viel Training war es unmöglich, den Kloot auf diese Weise zu werfen“. Tatsächlich sind, wie Kujas schreibt, „Technik und Bewegungsablauf der Friesen beim Werfen genauso hochwertig anzusehen wie andere leichtathletische Wurfarten“.

Daß sie nie olympisch wurden, liegt allein daran, daß auf die Hochzeit des Dadaismus die faschistische Diktatur folgte. Nur allzugern hätte Hitler die starken, aufrechten Friesen seiner Mörderbande einverleibt, doch sie weigerten sich strikt, dem Reichssportbund beizutreten. Durch solchen Anschluß, weiß Kujas, wären „die jahrhundertelange Tradition und damit das alte Heimatspiel mit all seinen Bräuchen und Sitten verloren gegangen“. Der FKV-Vorstand beschloß also einstimmig die Deklaration als Kulturhüter und blieb weitgehend unbehelligt von brauner Indoktrination. Noch heute künden Vereinsnamen wie „Freier Friese“ vom Stolz einer kleinen Schar, die nicht aufhörte, unerwünschten Eindringlingen Widerstand zu leisten.

Das Problem: Pro forma und notgedrungen mit dem Etikett Kultur behaftet, blieb Boßeln wie Klootschießen nach Kriegsende die Anerkennung als Sport versagt. Hanebüchen.

Soll einer behaupten, daß etwa Hans-Georg Bohlken kein Leistungssportler sei. „Der Bär von Ellens“ ist der erfolgreichste Klootschießer, den es je gab. Dreimal siegte er bei den Europameisterschaften, zu denen sich Athleten aus Holland, Irland, Nordirland, Schleswig-Holstein und dem FKV-Gebiet alle vier Jahre versammeln. Bohlken dürfte sich ohne Übertreibung Weltmeister nennen, denn nur in den genannten Gebieten wird sein Sport leistungsorientiert ausgeübt.

Acht Jahre hielt der „Bär von Ellens“ mit 105,20 Metern den Weltrekord im Klootschießen, und das schafft niemand eben so aus dem Handgelenk. Vor großen Wettkämpfen trainiert der 2,04 Meter große Hüne mehrere Stunden täglich: „Mit dem Fahrrad zur Arbeit und zurück, danach die Zehn-Kilo-Bleiweste angeschmissen, fünfeinhalb Kilometer durch den Wald gerast, anschließend im Kraftraum ein paar Tonnen Gewichte hochgekloppt, dann vierzig Wurf, dazu Handball und Schwimmen für die Fitness.“

Der Mann mit der Armspannweite von 2,11 Metern verlor „zwischen 1984 und 1992 keinen offiziellen Wettkampf“ und gewann unlängst mit seinem Boßelclub „Lat'n rull'n“ Schweinebrück die vierte Oldenburgische Landesmeisterschaft in Folge. Alkoholgenuß bei Ligakämpfen führt heutzutage zur Disqualifikation, und Bohlken erkennt weitere Indizien wachsender Professionalisierung. „Hier und da gibt's mal einen Sponsorenvertrag“, sagt er und: „Man hat schon mehrfach versucht, mich mit Arbeitsplatzangeboten abzuwerben.“ Erstmals wird im Juni auch offiziell um Geld geboßelt. 1.500 Mark erhält das beste Zweierteam. Klar, daß Bohlken dabei ist.

Im Gegensatz zu uns Dadaisten sind Könner wie Bohlken fähig, „die Straße zu lesen“. Sechzehn Schritte Steigerungslauf, dann feuert er den Boßel mit Urgewalt über den Asphalt, wobei er den Trick beherrscht, die Kugel im letzten Moment je nach Straßenlage über Daumen oder kleinen Finger abzurollen, auf daß der Effet sie länger auf dem „Kamm“ in der Bahnmitte halten möge. „Der Bär von Ellens“ sagt: „Du kannst das Ding nicht einfach mit Gebrüll dahinballern.“

Solch hohe Kunst wird in den lokalen Medien entsprechend gewürdigt. Vor jeder Saison veröffentlichen Zeitungen Boßel-Sonderbeilagen, Berichte von Wettkämpfen beanspruchen mehr redaktionellen Raum als solche aus der Fußball-Bundesliga.

Boßeln boomt. Wohl bleibt der Besuch von etwa 20.000 „Käklern und Mäklern“ (übersetzt: Zuschauern) bei einem Klootschießerkampf 1924 bislang unerreicht, doch vom allgegenwärtigen Mitgliederschwund der Sportvereine ist beim FKV nichts zu spüren. Die Zahl der Aktiven wächst stetig. 1962 waren 5.120 Boßler und Klootschießer im FKV registriert, fünfzig Jahre später bereits knapp 40.000, heute sind es an die 45.000, Tendenz: weiter steigend. Das Werfen wird an Schulen gelehrt und in Vereinen und Leistungszentren perfektioniert. Und kein Friese, der sich nicht zumindest einmal in seinem Leben an der dadaistischen Version versuchte.

Trotz aller Begeisterung: An deutschen Küsten sind irische Verhältnisse derzeit nicht in Sicht. Dort werden an die Sportler noch ganz andere Maßstäbe angelegt. Umgerechnet 15.000 Mark hat die Brauerei Guinness demjenigen versprochen, dem es gelingt, eine 800 Gramm schwere Eisenkugel über die Eisenbahnbrücke bei Cork zu werfen. „Der Bär von Ellens“ bereitet sich professionell vor. Er schleudert den Kloot daheim über Hochspannungsleitungen und über den Ausleger eines Baukrans.