: Mord als beste Lösung?
Bewirkt der Erfolg von Menschenrechtsorganisationen am Ende schlimmere Formen des Umgangs mit politischen Gefangenen? ■ Von Caroline Moorhead
Am 23. Februar dieses Jahres wurde Christ Batan, 26 Jahre alt und Angehöriger des Igorol-Volkes auf den Philippinen, auf einer Straße in den Cordillera-Bergen von Unbekannten durch Schüsse tödlich verletzt. Ahmed Lemaadal, ein 33jähriger Sahrawi aus Smara in der Westsahara, ist „verschwunden“; und Maria Rumalda Camey, Mutter zweier Kinder, wurde eines frühen Morgens aus ihrem Haus in Guatemala verschleppt.
Sie und mit ihnen viele tausend andere könnten noch am Leben und bei ihren Familien sein, wenn die Menschenrechtsbewegung nicht so erfolgreich gewesen wäre; wenn sie die Aufmerksamkeit der Welt nicht auf die Gefangenen aus Gewissensgründen gelenkt hätte.
Unabweisbar geworden ist der entsetzliche Gedanke, daß die weltweit zunehmende Menschenrechtsbewegung und ihre erfolgreichen internationalen Kampagnen diktatorische Regime nicht etwa zur Achtung der Bürgerrechte gezwungen haben, sondern sie zu noch drastischeren und entsetzlicheren Formen der Repression haben greifen lassen. Solche Regierungen finden es inzwischen einfacher, ihre Kritiker verschwinden zu lassen, als sich dem Risiko negativer Publicity auszusetzen, die politische Gefangene inzwischen bedeuten.
Als amnesty international sich Ende 1961 erstmals zusammenfand, waren schnell 210 Gefangene in den repressivsten Ländern der Welt gefunden. Sie wurden von den Mitgliedern der neuen Organisation adoptiert, man nahm Briefkontakt mit ihnen auf. Diese Frauen und Männer waren „Gefangene aus Gewissensgründen“ – so definierte es der Gründungsgedanke von amnesty; das heißt, sie wurden nicht wegen begangener Verbrechen in Haft gehalten, sondern weil ihre Herkunft, Religion oder politische Meinung den Herrschenden in ihrem Lande nicht paßte. Angesichts der Tatsache, daß sich die Welt damals bereits im 13. Jahr der UNO-Menschenrechtserklärung befand, eine Tatsache, die, zumindest theoretisch, solche Formen staatlicher Unterdrückung hatte unmöglich machen sollen, war dies natürlich zutiefst deprimierend. Aber man hielt Interventionen damals gleichzeitig noch für potentiell wirkungsvoll und meinte, ein paar höfliche Briefeschreiber könnten solche Regime überreden, ihre Gefangenen freizulassen.
Es ist interessant, heute zurückzublicken auf den internationalen Überblick, den zu Beginn der Sechziger die Londoner Times veröffentlichte. Dort wurden die Zustände in Chile als „gut“ bezeichnet, das hieß, es gab keine politischen Gefangenen; in Burma waren Politiker unter Hausarrest; die Türkei schnitt nicht gut ab, weil sie die linke Presse „bedrängte“, und Ceylon (heute Sri Lanka) und Indien „teilten sich die Ehre ..., die Heimat politischer Freiheit in Asien zu sein“.
„Verschwundene“ statt Langzeitgefangene
Nach diesem Stichdatum schnellten die Zahlen für politische Häftlinge in nahezu jeder Himmelsrichtung unaufhaltsam in die Höhe, sei es, weil die Welt gegenüber diesem Problem aufmerksamer geworden war, sei es, weil Diktatoren wirklich repressiver vorgingen. Amnesty arbeitete bald für tausend, zweitausend, fünftausend Gefangene. Als im Frühjahr 1988 die erste Serie einer zweiwöchentlichen BBC-Sendung über „Prisoners of Conscience“ geplant wurde, war die Auswahl beängstigend. Was sollte man besonders herausstellen: Langzeitgefangene, Kinder, alte Menschen, die gefoltert wurden, Frauen in Einzelhaft?
Das alles schien ein Dauerzustand zu werden – trotz der Menschenrechtskampagnen und ihrer Erfolge; also trotz der plötzlich freigelassenen Gefangenen, die von erstaunlichen Brieffluten in ihre Zellen berichteten, und trotz der verwirrten Gefängnisdirektoren, die sich über so viel internationale Sorge wunderten. Was konnte auch bequemer sein für eine Regierung, als ihre politischen Opponenten und Dissidenten ohne Anklage und Prozeß hinter Schloß und Riegel zu bringen?
Dann jedoch geschah etwas Unerwartetes: Als wir im Frühjahr 1992 wieder nach individuellen Fällen für die BBC-Serie suchten, war die Zahl der „Prisoners of Conscience“ dramatisch gesunken. Selbst ausführlichste Recherchen brachten es auf nicht mehr als 20 Namen. Es stimmte zwar, daß in Burma jeder eingesperrt wurde, der gegen die undemokratische Militärherrschaft protestierte, und auch Syrien traute sich – nachdem es durch seine Politik im Golfkrieg plötzlich zu einem akzeptierten Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft geworden war – nun erst recht, seine unliebsamen Kritiker wegzuschließen.
Aber Osteuropa hatte alle politischen Gefangenen entlassen. Selbst Lateinamerika, einstmals Kontinent mit der höchsten „Gefangenendichte“, weist nur noch vereinzelte Fälle auf, und sogar Singapur und Südkorea werfen nicht ganz so schnell mehr jemanden ohne Anklage und Prozeß ins Gefängnis.
Das alles ist aber leider absolut kein Grund zur Freude. Die Entlassung der „vergessenen Gefangenen“, wie sie der amnesty-Gründer Peter Benenson einst taufte, hat keine Ära einer Verbesserung der Menschenrechtssituation eingeläutet. Im Gegenteil: In über hundert Ländern wird regelmäßig gefoltert, obwohl die meisten dieser hundert Staaten die Erklärung gegen Folter unterschrieben haben.
Massenerschießungen, Todesschwadrone, das „Verschwinden“ von Menschen und die heute als „ethnische Säuberung“ bekannte Form des Völkermords haben sich auf der ganzen Welt ausgebreitet. Die Vergewaltigung muslimischer Frauen in Bosnien, die Abschlachtung der Kurden im Südosten der Türkei und die Massaker an Minderheitsvölkern in Bangladesch wiederholen sich überall in der Welt.
Was also bedeutet das für die „Prisoners of Conscience“? Darauf gibt es keine einfache Antwort. Die Frage ist offen und muß von allen, denen etwas an den Menschenrechten liegt, sehr ernst genommen werden.
Sind die internationalen Kampagnen für das Schicksal der politischen Gefangenen irrelevant geworden? Oder schlimmer noch: Hat der Triumph der Menschenrechtslobby, die so lautstark für den einzelnen Gefangenen eingetreten ist, den politischen Mord zur effektivsten Lösung für Diktaturen gemacht?
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