■ Eine Replik auf Ludger Volmer von Ralf Fücks: Reformwille und Realitätssinn
Welcher Dramaturgie wird der grüne Wahlprogramm-Parteitag folgen? Ludger Volmers „Nicht unterkriechen lassen“ (taz v. 24.2. 1994) zielt auf die innerparteiliche Psychologie: Nabelschau, Appelle an die „grüne Identität“, subtile Denunzierung der „Realos“ als 5. Kolonne der SPD, die das grüne Erbe für das Linsengericht des Mitregierens preisgeben will – so sicher sind die grünen zehn Prozent im Oktober nun auch wieder nicht, daß wir uns solche Kindereien leisten könnten.
Der alte Grundsatzkonflikt pro und contra Regierungsbeteiligung ist entschieden, das ist wohl wahr. Ebenso wahr ist, daß die Grünen ihrem Selbstverständnis nach „für einen grundsätzlichen Richtungswechsel, eine grundlegende Reformpolitik“ stehen. Auf dieser Ebene läßt sich eine innergrüne Lagerbildung nur mit viel Demagogie begründen. Der Kern der aktuellen politischen Differenzen ist subtiler. Es geht um das Verhältnis von Programm und Wirklichkeit.
Unter allem Formelnebel scheint diese Differenz in der Definition auf, die Ludger Volmer „für die Realisierbarkeit unserer Programmforderungen“ versucht: „Unsere Konzepte müßten technisch machbar sein, wenn der politische Wille dahinterstünde.“ Dieser Satz spricht Bände: die Gesellschaft als Baukasten, die Grünen als Sozialingenieure, die die Wirklichkeit am Schreibtisch neu konstruieren. Wer den technischen Machbarkeitswahn der Industriegesellschaft kritisiert, sollte nicht den politischen Machbarkeitswahn zum Programm erheben.
„Technisch machbar“ ist der Atomausstieg binnen zwei Jahren wohl, ohne daß die Lichter ausgehen, wenn auch nicht zum klimapolitischen Nulltarif. Aber jede(r) weiß, daß die Abschaltung der bundesdeutschen AKWs angesichts des geltenden Atomrechts, der drohenden Entschädigungsforderungen der Betreiber, des versammelten Widerstands der Industrie nicht in dieser Frist durchzusetzen ist, selbst wenn die Grünen als triumphaler Wahlsieger die Regierung übernähmen.
Stärkt es unsere Position im Wahlkampf und bei möglichen Koalitionsverhandlungen, wenn wir diese Frist trotzdem mit Pauken und Trompeten ins Programm schreiben? Oder wecken wir damit bei den einen illusionäre Erwartungen, die unvermeidlich in Enttäuschung umschlagen, während wir uns bei den anderen mit dieser Art Kraftmeierei disqualifizieren? Die Frage stellen heißt sie beantworten. Es ist ein lang gehegter Irrglaube, daß Maximalforderungen die beste Startposition für Kompromißbildungen seien.
Wir wären schon höchst erfolgreich, wenn uns in vier Jahren Regierung die Verschärfung des Atomgesetzes, der definitive Ausstieg aus der Plutonium- und Wiederaufarbeitungstechnik und die Durchsetzung eines verbindlichen Stillegungs-Fahrplans für unsere AKWs binnen zwei Legislaturperioden gelänge, beginnend mit den ältesten Anlagen. Kombiniert mit einer Umorientierung der öffentlichen Energiepolitik auf Energiesparen, Kraft-Wärme-Koppelung und Solarenergie-Förderung wäre das ein „grundsätzlicher Richtungswechsel“, der allein die Regierungsbeteiligung lohnte.
„Rechnerisch machbar“ ist auch die Forderung nach Steuer- und Abgabenerhöhungen im Jahr eins grüner Regierungsbeteiligung in Höhe von 180 Milliarden DM – so im Alternativentwurf zum Programmkapitel Ökonomie/Ökologie/Soziales. Gemessen an den statistischen 3.300 Milliarden DM Privatvermögen in den Ober- und Mittelklassen der Bundesrepublik erscheint diese Umverteilungsmasse fast bescheiden. Ökonomisch und politisch wäre aber die Steigerung des Gesamtsteueraufkommens um glatte 25 Prozent (oder 6 Prozent des jährlichen Sozialprodukts) ein Crashkurs, den keine Bundesregierung überstehen würde. So gerechtfertigt ein Solidaritätszuschlag bei der Einkommensteuer, eine Erhöhung der Erbschafts- und Vermögensteuer, eine Arbeitsmarktabgabe für Selbständige und Beamte, eine Investitionsabgabe Ost, die Einschränkung des Ehegattensplittings und neue Öko-Abgaben für sich genommen sind, so surreal wird das Ansinnen, sie gleichzeitig und sofort zu verordnen.
Vollends unglaubwürdig wird das herzhafte Kurbeln an der Steuerschraube angesichts der ökologisch notwendigen Begrenzung der ökonomischen Wachstumsdynamik. Und man muß auch kein Marktliberaler sein, um begründete Zweifel an der segensreichen Wirkung der Umverteilung eines immer größeren Teils des gesellschaftlichen Reichtums durch eine wachsende Staatsbürokratie zu hegen. Nicht „mehr Staat“, sondern mehr gesellschaftliche Selbstorganisation, Stärkung des Selbsthilfepotentials und der kleinen sozialen Netze sollte grünes Signal sein.
Am Thema „ökologische Steuerreform“ wird diese Kontroverse deutlich: Energiesteuern, Abfallabgaben, höhere Mineralölsteuern sind nicht in erster Linie Geldbeschaffungs-Instrumente für staatliche Programme; sie zielen vielmehr auf die Freisetzung einer ökologischen Eigendynamik auf der mikroökonomischen Ebene, bei Unternehmen und VerbraucherInnen. Rohstoffsparen, Abfallvermeidung, Reduzierung des Verkehrsaufkommens und Umorientierung auf umweltverträgliche Verkehrsmittel können nicht allein staatlich verordnet, sondern sollen im ökonomischen System verankert werden. Entscheidend sind nicht die staatlichen Mehreinnahmen, sondern ist die Innovation bei Produkten, Technologien und Konsumgewohnheiten, die mit der Einbeziehung ökologischer Kosten in die Preise ausgelöst wird. Es ist deshalb keine Sünde wider die Ökologie, wenn ein Großteil des Ertrags neuer Umweltsteuern in Form der Senkung von Sozialabgaben an Unternehmen und ArbeitnehmerInnen recycelt wird. Umgekehrt wäre die Senkung der Lohnnebenkosten ein effektives Beschäftigungsprogramm für Kleinunternehmen, Handwerk und Dienstleistungsbetriebe. Ohne diese Verknüpfung ist schwer vorstellbar, wie die nötige Akzeptanz für eine ökologische Steuerreform erreicht wird.
Solche Gedanken muß sich natürlich niemand machen, der die Krise des „Standorts Deutschland“ nur für eine raffinierte Täuschung der Öffentlichkeit hält, um endlich den Sozialstaat einzureißen. Es wäre ein fataler Wirklichkeitsverlust, wenn die Grünen sich diese Lesart zu eigen machen würden. In diesem Wahlkampf wird niemand bestehen, der keine ernsthaften Antworten auf die Kosten- und Innovationskrise bis in die Kernbereiche der bundesdeutschen Ökonomie geben kann. Dazu gehört auch die Verknüpfung von Arbeitszeitverkürzung mit flexibleren Arbeitszeitmodellen und die Bereitschaft zum Tausch von Konsum gegen freie Zeit bei mittleren und höheren Einkommen. Je höher der Lohnausgleich angesetzt wird, desto geringer wird der Spielraum zur Umverteilung der Erwerbsarbeit.
Das zweite Thema, das voraussichtlich neben „Standortdebatte“ und Massenarbeitslosigkeit den Wahlkampf entscheiden wird, ist die Außen- und Sicherheitspolitik: Wie muß Sicherheit in einer Phase neu definiert werden, in der sich Mittel- und Osteuropa in einem Umbruch mit ungewissem Ausgang befinden und kriegerische Machtpolitik in die europäische Arena zurückgekehrt ist? Welche Alternativen gibt es zur Ost-Ausdehnung der Nato, die nicht nur in Polen als Schutzschild vor einer möglichen Wiederauferstehung großrussischer Ambitionen betrachtet wird? „Die Ablösung nationalen Militärs durch zivile Strukturen kollektiver Sicherheit und friedenserhaltender Maßnahmen der UNO“ (Volmer) gibt darauf keine hinreichende Antwort. Sie spart die entscheidende Frage nach neuen Strukturen militärischer Sicherheit aus. Wer die Sicherheitspolitik internationalisieren und eine neue Konfliktlinie zwischen der Nato und dem russischen Reich verhindern will, muß der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ auch eine militärpolitische Dimension geben. Ihre Umwandlung in eine „regionale, nichtmilitärische Sicherheitsorganisation“, wie es der BuVo-Entwurf vorsieht, läßt ein Vakuum, das entweder zu einer Re-Nationalisierung der Militärpolitik in Mittel-Osteuropa oder zu einer Ausdehnung der Nato führen wird. Auch hier geht es nicht um „Anpassung an die SPD“, sondern um die Frage, ob wir aufgrund ideologischer Scheuklappen die wahren Probleme ausklammern – und dann weder im Wahlkampf noch in möglichen Koalitionsvereinbarungen festen Boden unter den Füßen haben.
Kurz und gut: Wir müssen uns entscheiden, ob wir uns zutrauen, mitten in einer massiven ökonomischen, finanziellen und psychologischen Krise Regierungsverantwortung für diese Republik zu übernehmen. Wenn ja, dann nicht als Zauberlehrlinge, die die Bundesregierung mit einem Abenteuerspielplatz verwechseln. Die Stimmungslage der Republik schwankt zwischen dem Ruf nach Veränderung und dem Wunsch nach Stabilität. Wir können den Mut zum Wandel nur freisetzen, wenn er nicht von der Angst vor unkalkulierbaren Risiken blockiert wird. Darauf müssen wir Rücksicht nehmen, nicht auf die SPD.
Mit der Kompetenz und Erfahrung, die wir in den Kommunen und Ländern gesammelt haben, können wir auf einigen zentralen Politikfeldern die Weichen in Richtung Ökologie, soziale Solidarität und Bürgerrechte stellen. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.
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