: Das geschah nicht aus dem Nichts
Jerusalem nach dem Attentat von Hebron: Die Palästinenser sind sich einig, daß die Verhandlungen gestoppt werden müssen / Trauer und Proteste / Frau Goldstein gibt Interviews ■ Aus Jerusalem Julia Albrecht
Vielleicht hat das Flugblatt noch niemand gelesen. Überall in der Jerusalemer Altstadt liegen die Aufrufe. Jemand ist von Haus zu Haus gegangen und hat in jeden Hof ein Papier geworfen, das dazu auffordert, die Stadt schwarz zu flaggen. Vielleicht hat es noch niemand gelesen, denn in der Stadt, auf den Dächern der Altstadt sind keine Fahnen zu sehen. Der Tag nach dem Massaker in Hebron geht zu Ende, und der nächste zieht heran, mit Regen und Nässe, mit anderen Farben als sonst, aber ohne Schwarz. Doch das kann noch kommen. Zunächst soll zehn Tage gestreikt und getrauert werden. Danach soll „mit allen Mitteln Vergeltung geübt werden, damit das israelische Volk und vor allem die Siedler begreifen, daß wir durch den Verlust der Märtyrer nicht geschwächt wurden“. Das palästinensische Volk soll „seine Führung auffordern, die Verhandlungen zu beenden“.
Auch in einem Café in der Altstadt liegt das Flugblatt. Es ist Streik, und die Gassen der Altstadt gleichen mehr als sonst einer steinernen Trutzburg. Die Läden, deren Auslagen sonst die Farbigkeit der ockerfarbenen Steine kontrastieren, sind verschlossen. Die dicken Stahltüren lassen keine Spekulation darüber zu, was sich hinter dem Panzer befinden könnte. Die Wohnungen der Altstadt haben ihre Fenster zu den Höfen, nicht aber zu den Gassen. An Tagen wie diesen gibt es nur noch Stein und Stahl. Im Café sitzen die Gäste hinter verschlossener Stahltür. Wer draußen vorbeigeht, muß darauf achten, ob auch die Schlösser vor den Riegeln hängen. Das ist das Zeichen dafür, ob sich vielleicht drinnen etwas abspielt, was von draußen nicht zu erahnen ist. Das Flugblatt geht von Hand zu Hand. Es ist nicht von einer der radikalen Bewegungen, nicht von einer jener Parteien, die von Anfang an das Abkommen boykottierten. Es ist von der Fatah, deren Chef Arafat persönlich ist. Später wird es mit einem Feuerzeug in einem Aschenbecher verbrannt.
Jeder, den ich an den Tagen nach dem Attentat spreche, bestätigt dreierlei. Arafat soll mit den Verhandlungen aufhören. Die Palästinenser sollen die Gewalt erwidern. Die Vereinten Nationen sollen zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung in die Westbank und in den Gaza-Streifen kommen. „Die Hoffnung, die ich hege, die einzige Hoffnung, die das Verbrechen auslösen könnte, ist, daß die israelische Regierung versteht, daß sie jetzt, genau jetzt etwas tun muß“, sagt Hanna Siniora, Herausgeber der neuen englischsprachigen palästinensischen Zeitung The Jerusalem Times. Sein Büro liegt lahm. Die Angestellten konnten nicht kommen, werden auch in den nächsten Tagen nicht kommen. Die meisten wohnen in der Westbank, über die das israelische Militär eine Ausgangssperre verhängt hat. „Die Verhandlungen müssen unterbrochen werden“, sagt Siniora, „bis die Siedler entwaffnet sind und das israelische Militär, das unsere Leute nicht schützt, abgezogen ist.“
Die Hinweise sind erdrückend, daß das Massaker nicht aus dem Nichts geschah, fast vorauszusagen gewesen wäre. Vor drei Monaten hatte Baruch Goldstein, Arzt, Einwanderer aus den USA und Anhänger der ultraradikalen religiösen Bewegung Kach, in einem Interview gesagt: „Wir müssen den arabischen Nazis das Handwerk legen, wenn die israelische Armee dazu nicht in der Lage ist.“ In den abendlichen Nachrichten nach dem Attentat finden sich viele Siedler aus Kirjat Arba, die vor laufender Kamera das Massaker heroisieren: „Er hat es nur in die Hand genommen.“ – „Er hat sich des Problems selbst angenommen.“ – „Wir müssen alle Araber aus dem Land vertreiben.“
Premierminister Rabin hingegen sagt kühl: „Ein Akt von Verrücktheit, ausgeführt von einem Mann.“ Es klingt fast höhnisch, wenn er das Attentat mit den Worten bedauert: „Das ist ein schwerer Tag für Juden und Araber, die nach Frieden suchen.“ Zynisch sind diese Sätze. Denn auch wenn es versöhnend klingen könnte, daß Rabin die Juden und die Araber zusammen nennt, sie sozusagen als Trauergemeinde verschweißt – so entspricht das doch nicht den Realitäten. In diesem Land trauern die unterschiedlichen Nationalitäten nicht miteinander, sie trauern und kämpfen gegeneinander.
Aber das ist nicht alles. Es gibt auch andere. Auf beiden Seiten. Es gibt die Israelis, die tatsächlich trauern, die am selben Tag auf die Straße zogen und gegen die Tat demonstrierten. Und es gibt Palästinenser, die sehr deutlich auseinanderzuhalten wissen zwischen radikalen „Siedlern“ und Israelis – anders als der junge Mann in der Altstadt, der sagt: „Wenn wir Waffen hätten, dann würden wir jeden Juden erschießen.“ Dabei zeigt er auf einen bewaffneten gläubigen Juden, der auf dem Weg zur Klagemauer ist. „Und wir haben Waffen. Zwar nicht hier, aber im Gaza- Streifen.“
Es sind nicht nur die Türme der Moscheen und der Kirchen, die über die Dächer der Jerusalemer Altstadt ragen. Es gibt auch eine meterhohe Minora, einen siebenarmigen jüdischen Leuchter, zu sehen, der das Haus Ariel Scharons schmückt. Der ehemalige Bauminister unter der Likud-Regierung kaufte das Grundstück gleich nach dem Sechs-Tage-Krieg, um zu demonstrieren, wem das Land, wem die Stadt gehört. Sein Haus liegt im muslimischen Teil und ist Tag und Nacht von einer kleinen Gruppe Soldaten bewacht. Er hat nie hier gewohnt. Nur manchmal kommt er vorbei, gepanzert und bewacht, feiert ein Fest mit Gleichgesinnten und fährt dann wieder ab. Unter ihm im Bauministerium saß Geula Cohen. Heute ist sie Siedlerin in Kirjat Arba. Sie kam vor drei Monaten, weil „mein Kampf schon immer für die Sache des jüdischen Volkes war“. Nach dem Handschlag zwischen Rabin und Arafat kam sie in die 6.000 Einwohner große Siedlung bei Hebron, die für ihre Ultraradikalen bekannt ist. „Man kann das Massaker nicht aus seinem Kontext reißen“, sagt sie. „Der Kontext ist das Massaker an dem Staat der Juden, an den Juden. Es geschah nicht aus dem Blauen, es geschah aus dem Rot, dem Blutvergießen an den Juden.“
Kirjat Arba ist unter Ausgangssperre, heißt es in den Nachrichten. „Es gibt keine Ausgangssperre hier“, sagt Eliakim Haezim, seit 22 Jahren Siedler in Kirjat Arba. „Das sagt die Regierung, um den Herrn Arafat und vielleicht auch den Herrn Clinton zu beschwichtigen. Alle zwei Stunden fahren wir im Konvoi nach Jerusalem, bewacht von israelischem Militär. Rabin sagt das, um zu zeigen, daß man mit eiserner Faust gegen uns vorgeht.“ Er lacht bellend. „Sie müssen aber auch den Kontext sehen – und das dürfen Sie nicht als Entschuldigung verstehen – Goldstein war das schwächste Glied in der Kette. Er hatte ultraradikale Ansichten. Unter seinen Augen sind viele gestorben, die Opfer terroristischer Anschläge waren. Die Araber jagen uns hier wie Wilde. Freunde erzählen mir, daß er sich verändert hat, daß er ein wenig verrückt geworden war. Er überlegte sogar, eine Zeitlang die Siedlung zu verlassen, um mal auszuspannen. Unsere Regierung ist verrückt, sie sollten alle eingesperrt werden.“
In seinem Hotel in Ost-Jerusalem sitzt Walid Zaki auf den Polstern der zersessenen Couch. Er weist zum Fenster, das auf die Via Dolorosa geht. Es ist die Straße für die Christen, die hier die Leidensstationen Christi abgehen, es ist der Weg für die Muslime, die hier zur Al-Axa-Moschee gehen, und es ist der Weg für die Juden, die zur Klagemauer laufen. Es ist Samstag, ein Tag nach dem Attentat. „Heute morgen sind die Juden hier gelaufen und haben gesungen – sie waren glücklich“, sagt Walid Zaki voller Verbitterung. Den Muslimen ist es verboten worden, die Moschee zu betreten. Nach dem Massaker und nach den Steinen, die am Freitag abend hier geflogen sind, nach den Schüssen, die auch hier auf die steinewerfenden Palästinenser fielen, und der Erschießung eines 18jährigen wird nur noch Frauen und Männern über 41 der Zugang zur Moschee gewährt. „Warum werden wir unter Ausgangssperre gestellt und nicht die Siedler?“ fragte am Freitag abend die ehemalige PLO-Sprecherin Hanan Aschrawi.
Zaki hat einen Cousin, der bei dem Massaker in Hebron erschossen wurde. „Er starb hier im Krankenhaus. Sie haben ihn gleich hier beerdigt. Meine Familie in Hebron hatte Angst, daß die Sicherheitsbehörden den Leichnam beschlagnahmen würden, wenn sie versucht hätten, ihn nach Hebron zu bringen.“ Noch liegen zwanzig Leichen im Ostjerusalemer Krankenhaus im Kühlschrank. Die Sicherheitskräfte haben sie noch nicht freigegeben, dabei gehört es zu den elementaren Geboten des Koran, die Toten am gleichen Tag zu beerdigen.
Die Frau von Baruch Goldstein hat in einem Radiointerview gefragt, wann man die Mörder ihres Mannes verfolgen und vor Gericht bringen würde. Baruch Goldstein – „Er war ein Engel, er hat alle behandelt, sich um jeden gekümmert“, sagt Geula Cohen – hatte am vergangenen Freitag mehrere Minuten Zeit, auf die knienden Muslime zu schießen. Er hatte so viel Zeit, daß er mehrmals nachladen konnte. Er hatte so viel Zeit, daß er mehr als fünfzig Personen töten und bis zu zweihundert verletzen, also treffen konnte mit den Kugeln aus seinem Gewehr. „Nach einer Salve gab es winzige Momente, dann lud er erneut und schoß weiter.“ Ein Verletzter im El-Markasset-Krankenhaus in Ost-Jerusalem sagt: „Ich erinnere, daß es mit einer Detonation begann. Aber vielleicht irre ich mich. Vielleicht habe ich den Anfang, den Schreck des Anfangs, wie eine Explosion wahrgenommen, vielleicht waren es aber von Anfang an nur Schüsse. Die Schüsse kamen aus unterschiedlichen Richtungen. Der Mann ging auf und ab, während er auf uns zielte. Ich war in den Unterschenkel getroffen worden. Ich habe es gleich gemerkt, daß ich getroffen worden bin. Einige haben versucht, sich hinter Säulen zu verstecken.“
Erst nach Minuten scheint sich in der Moschee die vollkommene Lähmung gelockert zu haben. Erst nach Minuten haben einige Männer es geschafft, Baruch Goldstein zu erschlagen. Zunächst mit einem Feuerlöscher, dann mit Stühlen. Noch ist die Tat nicht aufgeklärt. Noch stehen die verschiedenen Äußerungen nebeneinander. Einzeltäter, Mittäter, die ihm die Patronen zugeschoben, Soldaten, die mitgeschossen hätten – und Frau Goldstein fragt, wann die Mörder ihres Mannes verfolgt und vor Gericht gestellt werden.
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