Ein Praktiker, für den nur der Erfolg zählt

Niedersachsens Ministerpräsident Gerhard Schröder im Wahlkampf auf der Suche nach der absoluten Mehrheit  ■ Von Jürgen Voges

Über Nacht war noch mal tüchtig Schnee gefallen, und der behandelt alle Autofahrer gleich. Gut eine Stunde braucht der Fahrer mit dem gepanzerten Audi Quattro für die 20 Kilometer vom Schröderschen Haus in Immensen bis Hannover. Die Autobahnen rund um die Landeshaupstadt sind dicht, auch der nächste Zug in Richtung Osnabrück ist nicht mehr zu erreichen. „Ja soll ich denn zu Fuß kommen“, schimpft ein noch müder Ministerpräsident, weil der Gesprächspartner am Autotelefon einfach nicht einsehen will, daß die geplante Rede vor der Betriebsversammlung nun in den Schnee gefallen ist. Beim Blick auf die Lokalzeitung lacht er dann spitzbübisch: „Glück muß man haben.“ Es gibt offenbar wieder Hoffnung für die 1.100 Beschäftigten der Dasa- Flugzeugwerft in Lemwerder, für deren Arbeitsplätze sich Schröder ins Zeug legt.

Die Beschäftigten der Flugzeugwerft umringen Gerhard Schröder auf jenem Wahlplakat, auf dem die Arbeitsplätze im Land zur Chefsache deklariert werden. Auf seinem Terminkalender dieser Wahlkampfwoche stehen neben den Parteiveranstaltungen immer noch drei Betriebsbesuche. Der diesmal in den Schnee gefallene gibt ihm immerhin an diesem Morgen in der Staatskanzlei Gelegenheit zu einer voluminösen Zigarre und einem ruhigen Gespräch. Wie er sich verändert habe in den letzten Jahren? Das könnten wohl andere besser beurteilen, kommt die Frage zurück. Wie er denn rückblickend die Niederlage bei der Urwahl des SPD-Parteivorsitzenden verkraftet habe? „Wenn man etwas gewollt hat, und das hat nicht geklappt, dann muß man das akzeptieren“, lautet die Antwort mit dem Zusatz: „Um mein Seelenleben muß sich im übrigen keiner Gedanken machen.“

Bis zur Landtagswahl in Niedersachsen am 13. März sind es noch 20 Tage, und recht gut gelaunt und aufgeräumt wirkt der Ministerpräsident an diesem Morgen bei Kaffee und Havanna. Es klingt glaubhaft, wenn er sagt, daß ihm die Niederlage gegen Scharping auch vieles erspart habe, daß „der Rudolf jetzt ein Jahr lang immer nur auf Achse ist“. Doch Schröder hatte vor allem die SPD-Kanzlerkandidatur seit langem gewollt, und jetzt sei die Sache für einen Zeitraum, in dem vernünftige Menschen denken, entschieden. „Außerdem ist der Rudolf noch jünger als ich.“

Gerhard Schröders Geschichte war bisher die einer Karriere. Er ist in einfachen Verhältnissen als Kind einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen, hat nach der Schule Haushaltswaren verkauft. Vor acht Jahren, als er das erste Mal in Niedersachsen als SPD- Spitzenkandidat antrat, da verstrickte er sich in seinen Wahlkampfreden heillos in der Syntax seiner ineinander verschachtelten Relativsätze. Nur ein Langweiler war er schon damals nicht. Heute beherrscht er die freie Rede, die rechte Hand spricht dabei mit, öffnet sich bei Fragen, unterstreicht Wichtiges.

„Schröder redet, redet, redet...“ ist in Hannover auf Wahlplakaten der CDU zu lesen. Doch das geht in die falsche Richtung. Schröder liebt entscheidungsreife Vorlagen, ist alles andere als ein Freund fruchtloser Debatten. Schon eher kann man ihm vorwerfen, manches übers Knie zu brechen. Er war schon immer ein Pragmatiker, für den nur der Erfolg zählte. Schließlich galt er noch als SPD-Linker, als er bereits dabei war, der Änderung des Asylgrundrechts in seiner Partei den Weg zu bereiten. Schon vor zwei Jahren machte er sich als erster SPD-Spitzenpolitiker öffentlich für eine Große Koalition stark, und auch am Schwenk der SPD hin zum Großen Lauschangriff hatte der gelernte Rechtsanwalt seinen Anteil. Auch in der Landespolitik, um die es jetzt im Wahlkampf vor allem geht, hat Schröder seine „Wendigkeit“ durchaus unter Beweis gestellt. Da hatte die SPD vor der letzten Wahl den Lehrern Arbeitszeitverkürzung versprochen, nun bekommen die Schulmeister nach den Sommerferien eine Verlängerung derselben. „Zur Zeit halten doch ganz andere den Buckel hin“, rechtfertigt dies der Ministerpräsident, die VW-Arbeiter hätten jetzt gerade Einkommenskürzungen von 15 Prozent hingenommen. Doch gerade das VW-Modell, die Beschäftigungssicherung durch Arbeitszeitverkürzug, will er eben nicht auf den öffentlichen Dienst übertragen – „wegen der Pensionsansprüche“. „Als Chefverkäufer der deutschen Rüstungsindustrie“ sieht er sich keineswegs. Doch er hat in ein und derselben Legislaturperiode strengste Rüstungsexportrichtlinien verlangt und später den Export von U-Booten nach Taiwan befürwortet, hat vor vier Jahren in jeder Wahlkampfrede den Jäger 90 als Geldverschwendung gegeißelt und dann vor Monaten der SPD „neues Nachdenken“ über das Milliardenprojekt empfohlen. „Ich bin nicht für den Jäger 90, ich bin für Planungssicherheit auch für die Rüstungsindustrie“, sagt er heute.

Natürlich hatte Schröder bei diesen jüngsten skrupellosen Schwenks nach rechts die niedersächsischen SPD-Stammwähler im Auge. Vorher ging es vor allem um seine bundespolitischen Ambitionen. Sein Examen als Parteiintegrator glaubte er über den Asylkompromiß abgelegt zu haben, und anschließend wollte er für Rot-Grün als Weg zur Macht im Bund stehen. Doch dann im letzten Sommer bei der Wahl des SPD- Vorsitzenden stand der linke SPD- Flügel hinter Wieczorek-Zeul, der Rest hinter Scharping, und hinter Schröder versammelten sich vor allem die Niedersachsen.

„Die niedersächsische SPD ist doch sehr bodenständig“, bemerkt er in der Staatskanzlei. Mehr als je widmet er sich nun dem heimischen Landesverband, dessen Chef er dieses Jahr auch werden wird. Schließlich ist er ein Pragmatiker, der vor allem auch gemocht werden will. „Ich fühle mich richtig wohl in den Veranstaltungen.“ Der Zuspruch, den er dort und in den Betriebsversammlungen erfährt, ist Balsam für die doch gekränkte Seele. „Mit uns zieht die neue Zeit...“, singen später am Tag die Senioren der ÖTV, als Schröder in den Saal des Freizeitheims Hannover-Linden einzieht. Applaus, ein Küßchen von der weißhaarigen Vorsitzenden des Niedersächsischen Seniorenkreises, Anni Gondro, die zur Feier des Tages Goldkette und ein kräftigrotes Kleid trägt. Ein Heimspiel, aber beileibe keine abgespulte Pflichtveranstaltung. Da steht ein lockerer und gleichzeitig souveräner Ministerpräsident am Rednerpult.

Man kann ihm eine positive Ausstrahlung nicht absprechen, wenn da die Fältchen um die Augen den hundert alten Damen und Herren immer wieder Freundlichkeit signalisieren.

Und die Wahlkampfrede? Sie kreist nicht nur hier bei den altgedienten Gewerkschafterinnen um die Themen Sozialstaat, Krise Wirtschaft. „Bonn ist nicht Weimar“, sagt Schröder. Aber man müsse aufpassen, daß Bonn nicht Weimar werde. Die erste deutsche Republik sei an den ungelösten sozialen Problemen kaputtgegangen. Armut und soziale Deklassierung seien der beste Nährboden für die Rattenfänger von rechts, Schröder will den „Verfall des Sozialstaates“ stoppen, plädiert für eine „aktive Industriepolitik“, die in Bonn nicht stattfinde, dafür aber in Niedersachsen. Nebenbei polemisiert er gegen Bundeswirtschaftsminister Rexrodt, und dann bekommen es auch die Grünen ab: „Ich soll ja raus aus der Atomenergie“, aber Braun- und Steinkohlekraftwerke gingen nicht wegen des Klimas, bei neuen Kraftwerken mit Gas aus Norwegen störe die Pipeline durchs Wattenmeer, ein geplantes Windkraftwerk bei Greetsiel behindere den Vogelzug gen Norden. „Im Resultat kommt dann der Strom doch wieder aus der Steckdose“, ruft Schröder aus. Die Kräfte, „die wir in den vergangenen vier Jahrem in die Auseinandersetzungen mit dem Koalitionspartner investiert haben“, will er diesmal sparen. „Ich kämpfe dafür, daß die Sozialdemokraten es einmal vier Jahre allein machen können und dann auch allein verantworten“, lautet der Höhe- und Schlußpunkt seiner Rede. Eine SPD-Regierung ohne den hier wahrlich nicht beliebten Grünen- Bundesratsminister Jürgen Trittin – das begeistert die ÖTV-Senioren. „Ich kannte den Ministerpräsidenten ja schon, als er noch Juso war“, sagt Anni Gondro später und fügt anerkennend hinzu: „Er ist einfach ernster geworden, ist nicht mehr so radikal wie früher, gefestigter.“ – „Arbeitertümelei“ hat der Trittin seinem Kabinettschef mit Blick auf dessen Wahlkampf vorgeworfen – ein merkwürdiger Vorwurf gegen das Präsidiumsmitglied einer Partei, an deren Anfang immerhin der „Allgemeine deutsche Arbeiterverein“ des Ferdinand Lassalle stand. Doch das Zurück zu den sozialdemokratischen Wurzeln, das Sichwohlfühlen im ureigensten SPD- Milieu, ist bei Gerhard Schröder unübersehbar. Nein, der legendäre hannoversche Vormann der rechten SPDler im Bundestag, der Kanalarbeiter Egon Franke, sei nicht sein Vorbild geworden, sagt er. Denn populärer bei den Arbeitern sei immer Willy Brandt gewesen. „Willy hat das immer zusammengekriegt, die Vison von einer gerechten Welt und die große Resonanz in der Arbeiterschaft.“ Aber das mit der Vision sei in diesen Zeiten eben schwieriger.

So sieht es Schröder heute als Fehler, daß er sich als Ministerpräsident anfangs „zuwenig um die existentiellen Probleme der Leute“ und „zuviel um außenpolitische Themen gekümmert“ hat, wobei er auf sein Engagement gegen den Golfkrieg anspielt. In gewisser Weise tritt er so doch das Erbe der SPD-Kanalarbeiter an, will jene „sozialdemokratischen Traditionen fortsetzen, die die heutigen Kanaler nur noch symbolisieren“, aber längst nicht mehr ausfüllen. Sein Ziel ist es, daß „es nicht auch links von der Mitte zu politischer Desintegration kommt“.

So ganz reicht ihm das nicht, mit 49 Jahren noch ein- oder ein weiteres Mal Landesvater zu werden. Nach der Wahl werde er auch wieder etwas zu bundespolitischen Themen sagen, meint er und fügt hinzu: „Was ist eigentlich schlecht daran, es hier in Niedersachsen gut zu machen?“ Sein Hauptanliegen in den kommenden Jahren ist die Reform des öffentlichen Dienstes. Ansonsten sei die begonnene Ökologisierung der Wirtschaftspolitik fortzusetzen.

Da ist einer traditioneller und insgesamt bescheidener geworden. Nur in puncto Wahlergebnis nicht. Mit gutem Grund weckt dies das Mißtrauen der niedersächsischen Grünen. Fliegt die FDP am 13. März aus dem Landtag, ist Schröders absolute Mehrheit durchaus möglich, schafft sie die Fünfprozenthürde, hat die SPD wahrscheinlich die Wahl zwischen zwei Koalitionspartnern.

Natürlich sieht Schröder momentan „keinen Grund, über eine andere Koalition nachzudenken“. Wenn die SPD es nicht allein schafft, will er nur „mit meinem Partner, nicht mit anderen reden“. In zwei Bereichen sei eine Koalition mit den Grünen leichter als mit allen anderen, in der Sozialpolitik und in „der reinen Wirtschaftspolitik“, wenn es dort nicht gerade Konflikte mit ökologischen Belangen gebe.

Aber der Ministerpräsident will bei einer Neuauflage von Rot- Grün auch eine gemäßigtere Atompolitik festschreiben. „Wir dürfen uns nicht wieder dort in Handlungszwänge begeben, wo wir als Land gar keine Möglichkeiten haben.“ Immer wieder haben jedoch Grünen-Landesparteitage gerade einen entschiedenen Kurs gegen Atomanlagen eingefordert. Und schon am Morgen dieses Wahlkampftages hatte Gerhard Schröder so nebenbei bemerkt: „Die Grünen sollen die Forderungen nicht zu hoch schrauben, sonst lösen sie natürlich Nachdenken über einen anderen Partner aus.“