Zwischen den Rillen
: Mehrmals durch den Kopierer gezogen

■ Und plötzlich ist es Ballettmusik für den Fitnessraum: Elektronisches von Richard H. Kirk und Aphex Twin

Es ist noch immer eine fremde und seltsame Welt da draußen. Zum Beispiel gleich um die Ecke auf der Shell-Spättankstelle Montag abends gegen halb zehn: Aus dem Kofferradio der Kassiererin flackert eine Passage des „Trans-Europa-Express“ von Kraftwerk, vor ihr auf dem Counter steht – wohl mehr als Werbegag – ein Schuber mit King-size-Zigarettenpapers, als wären Jumbo-Tüten das Normalste von der Welt. Ein baseballbekappter GTI-Fahrer nimmt gleich zwei Päckchen mit, kichert und bezahlt die 67 Mark für Sprit und Blättchen mit einer goldenen Kundenkarte. Alles ist irgendwie schneller und langsamer und gleichzeitiger geworden.

Während jede Rockgeneration seit Bill Haley ihre eigenen Metaphern und Erkennungsmerkmale besessen hatte, scheint die Gruppenbildung mit Techno irgendwie verlorengegangen zu sein. Das mag an der Gleichmütigkeit liegen, mit der sich in moderner elektronischer Musik durchweg alles mischt. Martin Luther King, Captain Kirk, Fischer-Chöre, die Mainzelmännchenmelodie – der PC speichert halt grenzenlos Informationen.

Ein wenig von der allgemeinen Mainstream-Schnittstelle und kleineren Sixties/Seventies- Revival-Fluchten entfernt haben sich Ambient und Trance abgesondert. Hier sind die Zusammenhänge wunderlich: The Orb hängen alten Pink-Floyd-Konzeptalben nach, KLF mögen Country & Western und blökende Schafe, Youth von Killing Joke arbeitet mit Paul McCartney, und in jeder noch so klangfuzzeligen Bastelei finden sich sporadisch serielle Elemente aus Brian-Eno-Platten.

Musik als Möbelstück – wie zu erwarten hat sich der Free- Techno von Aphex Twin aka Richard D. James auf der Doppel-CD „Selected Ambient Works Vol.II“ innen eingerichtet. Nicht mehr trockene Remix- Phantasien wie zum stotternden Auto-Motor-Beat der letzten Maxi „On“, sondern elegisch ins Zartbesaitete neigende Etüden. Ballettmusik für den Fitnessraum. Doch inmitten all der selbstatmenden Melodiecollagen klingt ein naives Bedürfnis nach Metaphysik an – das Staunen darüber, was der Kopf an Klängen so zu Wege bringt. Auch Spex muß da passen: „Sounds fressen sich gegenseitig die Induktionsströme weg, und Klangstrukturen verwesen unter Aufsicht chemisch hochaktiver Hirne“, hieß es dort dichterisch über die Musik von Aphex Twin.

In Wahrheit stopft Richard D. James irgendwelche Kinderstimmen und Geräuscheschnipsel in den Computer, dreht an diversen Geschwindigkeitsreglern, verfremdet die Collagen über Echo oder Hall und schließt das Ganze dann an einen voll aufgedrehten Marshall-Turm an, bis lupenreiner Wiederholungs-Xerox herauskommt, den die Plattenfirma als „fragile Soundscapes“ beschreibt. Obwohl deren PR- Leute einem ja auch leid tun können: Statt satter Rockzeichen im Gleichklang mit Gitarreneffekten – wie Screamer oder Fuzz oder Wah-Wah – stellt das elektronische Gerät nur kryptisch- ausgezehrte Bilder wie Oszillator und Sinuswelle zur Verfügung.

Trotzdem ist „Selected Ambient Works Vol.II“ einzigartig, minimal und ergreifend klar strukturiert. Ein 23jähriger Stubenhocker nimmt unentwegt den Nonsense auf, der ihm durch den Kopf geht, legt manchmal ein bißchen Rhythmus unter die verstimmten Töne aus der Bandmaschine und schafft sich eine Nische zwischen John Cage und Monty Python. Von Grund auf britisch in seinem zurückgenommenen Surreal-Humor (Tiefseetaucher tanzen im Video), bewahrt sich der Aphex-Twin eine gewisse Kunst-Attitüde, indem er seinem Bastelkanon gar nicht erst Titel aufzwingt, sondern das abstrakt-diffuse Klangexperiment auf Doppel-CD mit 24 Detail-Fotos von obskuren Alltagsgegenständen in Nahaufnahmen bebildert: Wischmop, Bausand, Dominosteine, Grashalme und dergleichen mehr – rostbraun abgetönt.

Auch „Virtual State“ von Richard H. Kirk beginnt mit einer Covergestaltung, an der sich alles aufhängt. Ein kubistisch verschobener Autoperforationskopf, viermal durch den Kopierer gezogen und per DigiPaint-Programm zu einer Art „Alien, eine Treppe heruntersteigend“, frei nach Duchamp verfremdet. Der rauhe Industrialwitz findet seine Entsprechung in Titeln wie „November X-Ray Mexico“, „Soul Catcher“ oder „Worldwar Three“, wobei das vielfältige Raunen und Ethnogemecker ferner Radiostimmen immer noch sehr an Kirks frühe Arbeiten mit Cabaret Voltaire erinnert. Vom „Western Mantra“ ist ein analoges Grundschaben geblieben, nicht mehr ganz so schwarz, eher grau, fast weiß. Manchmal schlägt zwar Metall auf Metall, aber nicht als Krach, sondern glöckchenklar klirrend auf der HiHat – ein wenig orffisch verklärt in hundert kleinen Schritten. Wenn das Trance ist, dann vielleicht so wie das Lachen, in dem Canetti die Überreste des animalischen Beißreflexes vermutet hatte. Harald Fricke

Aphex Twin: Selected Ambient Works Vol.II

Richard H. Kirk: Virtual State (beide Warp; Rough Trade)