: Unwort des Jahres – abgekanzlert
■ Der Frankfurter Sprachwissenschaftler Professor Horst-Dieter Schlösser, bisheriger Jury-Sprecher der Unwort-Aktion, über eine Kanzlerschelte
taz: Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) hat das Kanzlerwort vom „kollektiven Freizeitpark“ zum Unwort des Jahres 1993 erkoren – das hat dem Wortschöpfer nicht gefallen, Herr Professor Schlösser?
Prof. Schlösser: Das Kanzleramt hat dieses Wort nicht nur verteidigt, das wäre ja noch verständlich gewesen, sondern es hat der GfdS – und das heißt konkret der Jury des Unworts – vorgeworfen, daß sie unseriös gearbeitet habe auf einer viel zu schmalen Datenbasis. Und dann kam's ganz dick: der Vorwurf von Kanzleramtsminister Bohl, die Entscheidung sei eine „bewußte Propagandalüge im Wahlkampf“.
Das muß Sie und die GfdS ja nicht stören.
Im Gegenteil: Wir sagen ausdrücklich: Die Unwort-Aktion zielt nicht auf Verbote. Das entspräche nicht unserem theoretischen Verständnis. In Deutschland soll es auch von wissenschaftlicher Seite aus keine Zensur geben. Wir wären sogar dankbar gewesen für eine Diskussion. Da hätte die eine Seite sagen können: So war's nicht gemeint, und wir hätten gesagt: So steht es in unserer Kurzkommentierung, das Wort „kollektiver Freizeitpark“ ist eine „unangemessene Pauschalierung der sozialen Situation“. In dem Moment aber, wo man so mit dem Holzhammer kommt wie Herr Bohl, da bekommt die Sache eine andere Dimension. Das kann man nur damit erklären, aber nicht entschuldigen, daß tatsächlich Wahlkampf ist. Ich habe mir im stillen vorgestellt, wie die Sache in einem anderen Staat weitergegangen wäre.
Wie denn?
Ich nehme an, daß wir da hinter Gittern gelandet wären. So lange sind diese Systeme ja noch nicht von uns entfernt, in denen der Vorwurf „Propagandalüge“ einen vor den Kadi gebracht hätte. Ich will das nicht dramatisieren, aber es kann einem doch angst und bange werden, wenn man über Worte von Regierenden nicht mehr diskutieren darf.
Wie hat die Gesellschaft für deutsche Sprache auf die „Abkanzelung“ reagiert?
Das ist das eigentlich Peinliche an der Geschichte. Zwei Jahre lang waren die Unwort-Aktion und deren Jury eine willkommene Werbung für die GfdS-Sache. Ich persönlich war durch Vorstandsbeschluß autorisiert, eine Jury zusammenzustellen und die Aktion zu machen. Ich hatte auch die Arbeit, die Gesellschaft hatte die Ehre. Und nun zuckte man zusammen, als Herr Bohl das sagte. Das Peinliche war, daß sich der Vorsitzende der Gesellschaft in der Öffentlichkeit so zitieren ließ, als würde er die Bohl-Kritik substantiell teilen. Das war für mich der Punkt, wo das Tischtuch zerschnitten ist. Natürlich ist im Vorstand auch sachlich darüber diskutiert worden, leider erst hinterher, ob der Zusammenhang des Wortes richtig durchdacht worden ist. Darüber kann man diskutieren, aber nicht unter Druck.
Funktioniert dieser Druck auch über finanzielle Abhängigkeiten?
Inzwischen weiß man, daß die Gesellschaft zu 45 Prozent aus Bundesmitteln finanziert wird. Da muß man nicht mehr ausdrücklich sagen: Wenn Ihr Euer Votum nicht zurückzieht, kriegt Ihr keine Mittel mehr. Da reicht es, wenn man so deutlich auftritt, wie Herr Bohl das gemacht hat, und das hat gewirkt.
Das heißt, die Gesellschaft für deutsche Sprache hat gekuscht?
Die Gesellschaft hat gekuscht. Ich werde deshalb mit Sicherheit die Unwort-Aktion nicht mehr im Rahmen der GfdS machen. Das habe ich dem Vorsitzenden auch deutlich gesagt, weil er auch schon laut darüber nachgedacht hat, diese Aktion nun zu beenden. Ich tue der Gesellschaft also einen großen Gefallen, wenn ich die Sache außerhalb weiterführe. Die Unwort-Aktion wird also nicht aufgegeben.
Haben Sie schon ein Unwort für 1994 im Visier?
Ich persönlich kann nur Vorschläge machen, genau wie jeder andere auch. Ich werde mal darauf warten, ob nicht das Wort Propagandalüge vorgeschlagen wird. Ich meine zumindest, es ist ein Unwort-verdächtiges Wort. Interview: Vera Gaserow
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