: Entgrenzte Traufhöhe für neue Wohnungen
Dachgeschoßaufstockungen sind zwar wirtschaftlich günstig, aber auch ein Eingriff in die sozialen Milieus der Siedlungen und nicht einfach auf die östlichen Plattenbauten übertragbar ■ Von Rolf Lautenschläger
Es gab Zeiten in Berlin, in denen selbst Bausenator Wolfgang Nagel (SPD) zum Überwinder der Traufhöhe avancierte. Und es wird sie wieder geben. Die Rede ist nicht vom geplanten Rogers-Turm am Zoo oder von des Senators liebstem Kind: dem Geschoßausbau mit luftigen Dachgärten und teuren Mansarden über einer neureichen urbanen Stadtlandschaft. Die Traufhöhe entgrenzte Wolfgang Nagel vielmehr bei simplen Drei- und Viergeschossern der frühen Nachkriegssiedlungen sowie eines Nazi-Quartiers durch die Aufstockung der Gebäude.
Die Sache war billig zu haben in der insularen Baulandschaft Westberlins Ende der achtziger Jahre. Der Halbstadt fehlte Baugrund, die Linderung der Wohnungsnot schlug sich teuer in den Landes- und Bundeskassen nieder. Wirtschaftlich günstig erschien darum die Schaffung von zusätzlichem Wohnraum, ohne hochwertige Freiflächen zu verbrauchen. Als ökonomisch galt, Bauvorhaben ohne Erschließung durchführen zu können. Dachaufstockungen, sagt der Architekt Peter Oswald, erfüllen beide Bedingungen: zum einen muß kein neues Grundstück erworben und erschlossen werden, zum anderen sind die Anschlüsse für Wasser, Strom, die Elektrizität bereits vorhanden. Auf den bestehenden Baukörper wird ein Leichtbau-Geschoß aufgesetzt, für die Verbindung der Leitungen oder der Treppenhäuser sägt man die existierende Dachhaut einfach auf, und fertig ist die Laube.
Zu den gelungenen Dachaufbauten zählen in Berlin unter anderem die Planungen der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften „Stadt und Land“ in der Köllnischen Heide und am Schlierbacher Weg sowie die der Gehag in Mariendorf. Ende der achtziger Jahre wurden die Aufstockungen geplant, im Sommer 1994 werden die letzten Arbeiten abgeschlossen sein. Sie sind nicht nur exemplarisch für den Geschoßaufbau großer Vor- und Nachkriegssiedlungen im Westteil Berlins, sondern können zugleich zur kritischen Reflexion und visionären Vorübung werden für eine neue Dimension von Dachlandschaften östlicher Plattensilos in Hellersdorf und Hohenschönhausen. Die Experimente in Neukölln und Mariendorf zeigen, daß bei der Architektur der Aufstockung gestalterische und funktionale Aspekte umgesetzt werden können, ohne die soziale Struktur sowie die Geschichtlichkeiten der Gebäude und der Siedlungen zu überformen. „Jede Aufstockung ist ein Eingriff in mühsam austarierte und verfestigte Milieus“, schreibt Wolfgang Kil in der Fachzeitschrift Bauwelt. „Die sachlichen Blöcke und Zeilen vertragen an Dachaufbauten eine ganze Menge. Man muß ihre Schlichtheit nicht verraten, sondern sich nur auf sie einlassen.“
Während sich die Aufstockung für rund 120 Wohnungen am Mariendorfer Dardanellenweg durch ein zusätzliches Staffelgeschoß mit ausgeprägten horizontalen Linien und glatten Flächen der ursprünglichen Architektursprache der fünfziger Jahre anpaßt, geben die Planungen den Häusern am Schlierbacher Weg eine neue Physiognomie, die den originalen Charakter der Gebäude nicht verzerrt. Die aus Trümmerziegeln in sogenannter Schlichtbauweise 1952 hochgezogene Siedlung am Schlierbacher Weg für „unverschuldet in Not geratene Familien“ sollte Anfang der achtziger Jahre wegen baulicher Mängel abgerissen, die Mieter einfach umgesetzt werden. Ein Gutachten zur Modernisierung und Instandsetzung der Wohnanlage zeigte 1988 aber Wege auf, die Siedlung – wirtschaftlich vertretbar – zu erneuern. Auf Drängen der 170 Mietparteien sowie des Bezirks gab 1989 der Bausenator grünes Licht, die Siedlung zu sanieren und sie zugleich aufzustocken. „Ziel des Konzepts sollte es sein“, hieß es in der Auslobung, „sparsam mit den natürlichen Ressourcen umzugehen und ökologische Kreisläufe zu beachten“. Unter der Beteiligung der Mieter entstanden ab 1991 Grundrißveränderungen in den zweigeschossigen Kisten und der Aufbau eines zusätzlichen Geschosses im Rahmen des sozialen Wohnungsbauprogramms, das 48 neuen Wohnungen Raum gab.
Die Modernisierung und Grundrißveränderungen, die Umbauten des Waschhauses zur Kita sowie die Aufstockung, sagt heute ein Mieter, haben den „ärmlichen Zustand und die lausige Atmosphäre der früheren Häuser entscheidend verändert. Trotzdem sickert die alte Form des Hauses immer wieder durch, aber eben anders.“ Die Holzkonstruktion mit der neuen Fassade aus Glas und Zementplatten, die auf die bestehenden Mauern aufgesetzt wurden, hat dem simplen Stil wenig anhaben können und ihn gleichzeitig ästhetisch und funktional verändert. Das 40-Millionen-Programm wurde 1994 für seine Qualität sowie den wirtschaftlichen und sozial verträglichen Umbaumodus ausgezeichnet.
Im Unterschied zur Siedlung Köllnische Heide, bei der die Aufstockung von 172 Wohnungen dem strengen „Kasernen-Charakter“ der 1936 errichteten Gebäude ein fast modernes Aussehen verleiht, gilt die Aufsattelung der Paul-Hertz-Siedlung in Charlottenburg als sozial und baulich entgleistes Desaster. „Ein vernünftiges Miteinander wurde von Anfang an nicht gefunden“, erinnert sich Georg Pietzuch, Sprecher der Gewobag. Das Aufstockungsprogramm für 500 Wohneinheiten erwies sich in der Tat als baulicher Absturz, wurden doch von Beginn an die Mieterinteressen ignoriert und aus wahltaktischen Gründen manipuliert. 1988 präsentierte der Senat und die Gewobag den Bewohnern einen Bauwettbewerb, dessen Ergebnis auf Ablehnung stieß. Die Sieger Maedebach/Redeleit (Berlin) schlugen eine Aufbaukiste vor, die luftigen Dachwelten des Wettbewerbs wurden verworfen. Zudem konnte die Baugesellschaft die Sorgen der Mieter nicht ausräumen. Da schien es bloß ein taktischer Kniff, daß Bausentor Nagel die Aufstockung vor der Wahl 1991 absagte, hinterher aber wieder auflegte. Die Folge war, daß die Mieter vor Gericht zogen. Pietzuch: „Zudem erwies sich der Entwurf der Architekten Maedebach und Redeleit als nicht finanzierbar, und wir mußten uns nach anderen Lösungen umsehen.“
Heute sind ganze 30 Wohnungen des großen Programms fertiggestellt, 30 weitere in der Entwicklung. Ihre Gestaltung spiegelt den Planungsprozeß. Auf den viergeschossigen Würfel des Architekten Wils Ebert aus dem Jahr 1962 wirkt die Aufstockung wie eine aufgesetzte Käseschachtel mit Lüftungsgittern. Das Aussehen der Aufstockung, räumt Pietzuch ein, entspeche nicht den Vorstellungen der Gewobag. An Verbesserungen werde gearbeitet, ebenso am Konsens mit den Bewohnern.
Auch im aktuellen Flächennutzungsplan der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung spielt der Geschoßaufbau bei den Siedlungsergänzungen mit rund 70.000 Wohneinheiten eine wesentliche Rolle. Wenn schon in den funktional und baulich vernachlässigten Quartieren nicht die Dichte der Stadt sowie ihre Mischung erreicht werden können, soll wenigsten die architektonische Ergänzung eine Annäherung an Urbanität und eine Aufwertung der Wohnansprüche bringen.
Doch die Praxis des Geschoßaufbaus läßt sich nicht einfach auf die östlichen Plattenbauten übertragen. Die Siedlungen selbst müssen verändert werden, die Aufstockung kann an der Maßstabslosigkeit höchstens kratzen, meint Oswald. Darum sind die östlichen Aufstockungspläne wie die für die „Schweriner Bauten“ im Bezirk Hohenschönhausen nur ein Aspekt auf dem Weg, den Seelenlosigkeiten der industriell gefertigten Architektur und dem toten Städtebau wieder Leben einzuhauchen. Immerhin entwickelte die Architektengruppe Casa Nova ein Attikageschoß unter einem aussschwingenden Flügeldach, das an die Architektursprache und Modernität der 20er Jahre erinnert und mit der neuen Dachzone die Dehnbarkeit der kantigen Proportionen auslotet.
Die geometrischen Volumen selbst und der Respekt vor den glatten flachgedeckten Kisten zeigen Wege auf, die Planungen der „Nachkriegs-Schlichtbauten“ fortzuschreiben. Die Eigenart der billigen Modernität fordert eine spezifische Weise des Weiterbaus heraus. Selbst bei älteren Gebäudeaufstockungen, wie der Siedlung in Neukölln, deren strenge Einheitlichkeit und bedrückende Eintönigkeit auf den ersten Blick keinen Zugang zu ermöglichen scheint, finden sich Kategorien des Weiterbaus, die sich dort aus der Reduktion der Form herleiten lassen. Eine moderne Struktur der Gebäude konnte herausgearbeitet werden, die sich in den Leichtaufbauten weitergestalten ließ. Die Wohnanlage gruppiert sich um einen großen Hof als räumliche Mitte der Siedlung, an dem auch die Hauseingänge und Treppenhäuser liegen. Den gleichbleibenden Rhythmus der Bauten, Fenster und Fassaden „übersprangen“ die Architekten quasi mit der Aufstockung und einem flachgeneigten Dach, die die abstrakten Formen der Bauten verlängern. Eine nostalgische Unterstützung der Vorkriegsbauten hätte den ursprünglichen Charakter gesteigert. Putzige Satteldächer und anheimelnde Giebel, technisch-konstruktive Kapriolen und postmoderne Zutaten – jene baulichen Accessoires wohnlicher Sehnsucht, die man beim Dachgeschoßausbau so oft benutzt – haben die Gebäude nicht nötig. Es reichen oft einfache, intelligente Verbesserungen: jene neue Dachlinie etwa, der bewegte Umriß oder nur Farbkonstraste.
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