Am Wegrand
: Zu den Rändern und zum Rot

■ Zehn Sätze statt eines Kommentars

„Lichtgewinn, meßbar, aus

Distelähnlichen:

einiges

Rot, im Gespräch

mit einigem Gelb...“

(Aus: „Bahndämme, Wegränder, Ödplätze, Schutt“ von Paul Celan)

1.

Vom Wegrand: die gesehene Schönheit blüht in den Gärten. Keine Unordnung, kein Freiwuchs.

Wir mischen uns nicht mehr. Nicht fremd, unfremd, nicht Provinz, nicht Stadt. Die Ränder bleiben außerhalb. Der Garten fremdenfeindlich.

2.

Die Pflanzen des Balkans sehe ich nur im Botanischen Garten. Exotik, Randgebiet. Multikulturell: ein verblaßtes Wort? Kunst hat mit Macht zu tun, mit Zentren.

3.

Die Weggefährten dort in Zagreb, schreibend, malend. Im schrecklichsten Sinn bringt sie jetzt der Krieg manchmal etwas ins Rampenlicht. Während die dunkle Wolkenwand ihre Gesichter verwischt.

4.

Das stille Rot, gemalt von einem Fremden 1967 in New York. Versinken. Sich wärmen. Obwohl das Vergessen droht. Aus dem Himmel, aus der Zerstörung. Kunst als Topliste der besten Zehn? Doch irgendwo blüht ein Kraut, ungesehen schön. Irgendwo tropft Regen auf ferne Felder und Wiesen. Der Traum der Nähe ausgeträumt. Türen knallen zu, Schlüsselbunde rasseln.

5.

Wenn die Nachtkerzen oder die Nachtfalterblumen auf der Terrasse in Zagreb aufgingen, blühten sie eine Nacht. Es sind Blumen der Bahndämme, der wüsten Orte. Hier sah ich sie nur einmal, auf dem Gleisdreieckgelände. Sie waren viel kleiner, gar nicht leuchtend. Verbannt in unseren Süden, erinnern sie an das Randgebiet überall. Leuchtend gelb wachsen sie ohne Pflege jedes Jahr wieder. Und sie haben etwas von empfindsamer Haut an sich, von fremdem Reiz und von Orten, die man verwildern läßt.

6.

Verbringe den Tag in der Schrift. Tröste dich auch du, im Bett der Kunst. Beschreibe die weißen Kissen, das durchsichtige Leinen. Gehe dann durch Bilder hindurch, gehe durch die Geschichte, die Erinnerung.

Beschwöre das Gegenbild, die andere Tinte. Presse Hoffnung hervor, die verschüttete. Nach allem. Vor allem. Vielleicht vor dem Tod.

7.

Mark Rothko, Markus Rothkowicz, geboren 1903 in Dwinsk, Selbstmord 1970 in New York. Rot und weiß. Blut und Gesicht.

Was den Augenblick bestimmt: Buchstaben aus Granatsplittern. Geschliffene Zeit. Und kein Himmel.

Das Rot malte er schon 1959. Wo waren wir gewesen? In welcher Ecke der Geschichte? Wo waren wir blind gewesen?

Rote Schleier fließen über das Photo des Kindheitsgartens im bosnischen Čapljina. Vermischen sich mit dem Regen, dem aufgeweichten Papier, dem gelöschten Brand. Zerglühn im Zentrum des Auges, schwärzen alle Gesichter ein. Diesen Rest. Den Rest von dem, was ich besaß als Beweis einer Erinnerung. Den Rest vom Leben.

Und rot der alte, alte Mann, rot weht sein Haar in den Flammen.

Angst. Ein Stadtkind, meinten die Bauern. Aber es war nicht einmal das. Gartenblumen und Wildpflanzen – sie blühen nicht mehr nebeneinander. Doch die Disteln sind schön: Stechdistel, Alant-Distel. Weiße Drachenwurzel, Trommelschläge, Schwalbenschwanz, gelbe Distel, Finkerdistel, Wiesdorn, Mariendistel, Silberdistel, Heilandsdistel, Milchdistel, Gottesgnadechrut, Stichsamen, Venusdistel, Krebsdistel, Hattdiessel, alter Junggeselle, Pflugschar, Otterkopf, Mausdissele, Eberrose, Wolfsdistla, Mannstreu, Kullerdistel, Kohldistel, Schartiblacke, Alter Knecht, Nickende Distel, Hergottskrone, Sonnenrosen, Sonnenwenddistel.

Was für Namen! Irena Vrkljan