: Mausepaule und Vorstadtraps
Die Unkrautgärten Claudio Langes als Gegenentwurf zu einer riesigen Dienstleistungsgesellschaft, die alles gnadenlos zurechtstutzt ■ Von Klaus Trappmann
Eine Erinnerung: „Fünf Jahre lang durfte ich nicht zurück in meine Heimat. Dann kam ein Brief meiner Mutter: Du kannst kommen. Danach kam der nächste Brief: Da ist noch ein Punkt. Erst mal bleib.“ So begann Claudio Lange seine „Rede über den Faschismus!“ vor Berliner Oberschülern.
Das war im Dezember 1979. Er blieb weitere 14 Jahre, bis er ging. Zu spät jedenfalls, um jene aufgeregte und mitfühlende Teilnahme zu bewirken, mit der wir die ersten chilenischen Heimkehrer Anfang der achtziger Jahre verabschiedeten und zurückerwarteten. Ein chilenischer Vorzeigeemigrant ist Claudio Lange sowieso nie gewesen. Entsprechend irritierend und lapidar fällt heute sein Reisebericht aus: materialisiert in einem Stapel Farbfotos von chilenischem Unkraut. „Nach einer Woche wollte ich weg aus Santiago. Das einzige, was ich vermissen würde, war das Unkraut“, erklärt er.
Eine Erinnerung: „A yuyo del suburbio su voz perfuma“ – eine Zeile aus dem berühmten Tango „Malena“ von Homero Manzi, gehört in Buenos Aires im ersten Jahr der Regierung Alfonsin. Ich brauchte Claudios Hilfe für die Übersetzung für die Untertitel meines Films auf den Spuren des Tangos. Yuyo übersetzten alle Lexika mit Unkraut. Aber deine Stimme duftet nach Vorstadtunkraut, Malena, wollte mich nicht überzeugen. Drei Stunden suchten wir nach dem Namen: für mich die spannendste Lektion über Tango, das Elend der Übersetzung und Chile. Um es kurz zu machen, Yuyo ist Raps; in Chile wächst er wild, als Junge, nach der Schule, konnte man sich hineinlegen und in den Himmel sehen.
Yuyo gehört natürlich auch in die utopischen Gärten, die Claudio angelegt hat. Anti-Gärten, Gegenentwürfe gegen ein fürchterlich geniales soziales Experiment, das er in Chile im Gange sieht: eine riesige Servicegesellschaft, in der 20 Prozent direkt von der neoliberalen Ökonomie mit ihren hochtechnologischen Arbeitsplätzen auf Weltmarktniveau und einem konstanten Wachstum profitieren. Und einem riesigen tertiären Sektor, einer überdimensionalen Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, in der die restlichen 80 Prozent Onkel Toms am Profit der Herrenrasse teilhaben und es gut haben dürfen. Überall wird bedient. Dazu gehören die Gärten. Zentral. Überall sieht Claudio Leute stutzen, rupfen, fegen. Auf den Hochhäusern, auf Plätzen, um die Villen, überall in Santiago gibt es Gärten. In ihnen findet nichts statt. Aber neben der Herrenrasse und dem ABM-Bereich, den sie sich geschaffen hat, gibt es ein Nichts, in dem etwas passiert, das Lust auf Leben macht. Dafür steht Unkraut.
Eine Erinnerung: „Wohnsitz nirgendwo. Vom Leben und Überleben auf der Straße“ hieß vor 15 Jahren eine Ausstellung, bei deren Vorbereitung wir uns kennengelernt haben.„Mausepaule“ heißt ein Bild, das er mir geschenkt hat, das Porträt eines stadtbekannten Penners vom Bahnhof Zoo. Ein Thema, das er als Maler und Schriftsteller immer wieder aufgreift: Leben in den Brachen, den Randzonen der Städte.
Auch Mausepaule ist ein Mosaikstein für die utopischen Gärten. Zum Beispiel ein blinder Straßensänger in der Fußgängerzone von Santiago, der Lieder sang, an die sich keiner mehr erinnerte. „Das ist eine Art Messe, die dann stattfindet. Dann stehen die Leute rum und haben Gesichter, die du sonst nicht siehst. Die tragen plötzlich ihr eigenes Gesicht. Sonst haben die Leute kein Gesicht oder ein diensteifriges Vierfünftelgesicht.“ Claudio Lange ist überzeugt: Seine Reise war eine Reise zurück in die Zukunft, in unsere Zukunft der Vierfünftelgesichter. Ich hoffe, er irrt sich.
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