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Höflich aneinander vorbei

■ Juden unerwünscht? Eine Diskussion in den Kammerspielen

Sind Juden in Deutschland unerwünscht? Über diese Frage diskutierten gestern vormittag Rafael Seligmann und Heiner Geißler im Rahmen der Veranstaltungsreihe Brückenschlag in den gut besuchten Kammerspielen. Vielmehr: Sie redeten aus diesem Anlaß höflich aneinander vorbei. Dabei ist die Frage keineswegs theoretisch. Eine halbe Million Juden lebten bis 1933 in Deutschland. 40.000 Mitglieder zählen die jüdischen Gemeinden heute. Die Wiederbelebung der jüdischen Kultur, wie sie 1.500 Jahre lang in Deutschland existierte, ist so nicht möglich.

Rafael Seligmann, deutscher Jude bzw. jüdischer Deutscher aus München, spitzte die Frage so zu: Soll Deutschland judenfrei bleiben? Doch leider ließ er Heiner Geißler, den er sich aufgrund seines provokativen Potentials ausdrücklich als Gesprächspartner erbeten hatte, allzuviel Raum, sich soft zu zeigen und als Anhänger einer multikulturellen Gesellschaft zu profilieren. Anders formuliert: Viel Zeit verlor man mit Multikulti-Geschwätz unter Gleichgesinnten.

Das tat der Diskussion nicht gut und führte vom Thema ab. Zumal das Publikum mit Zwischenfragen und Kommentaren versuchte, Geißler auf die Regierungsposition zum Asylkompromiß festzulegen und für die neudeutsche Gewalt gegen Ausländer haftbar zu machen. Was der wiederum leicht auskontern konnte. Denn von dem Sozialistenfresser kann man nun wirklich viel Böses denken, aber in diesem einen Punkt unterscheidet er sich eben doch von Rühe, Schäuble und Co: An Deutschland als Einwanderungsland glaubt Geißler wirklich.

So geriet die Diskussion in allzu seichtes Fahrwasser. Spannender wäre es gewesen, über das Verhältnis von Juden und Deutschen im Rahmen der aktuellen Debatte um die deutsche Identität zu diskutieren. Ansätze dafür boten die Diskutanten, indem sie sich einig waren, Antisemitismus als Ausdruck von Irrationalismus und Gegenaufklärung zu verstehen. Immerhin gehört zum jüdischen Erbe innerhalb der deutschen Kultur das Setzen auf Rationalität.

Als Seligmann jedoch von den Tendenzen zu einem neuen deutschen irrationalistischen Nationalismus sprach, die ja immerhin, wie man weiß, über die neuen rechten Parteien hinaus von der FAZ bis zum Spiegel reichen, drang er nicht durch. Immerhin gab auch Geißler ein klares Bekenntnis zu Europa und gegen die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates auf deutschem Sonderweg ab. Selbst das scheint ja heute nicht mehr selbstverständlich.

Dirk Knipphals

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