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Der erste infinitesimale Film

■ Neu im Kino: „Blue“ von Derek Jarman, ein Film über eine Farbe und den Tod

In der Malerei gab es die „Monochromes“: gleichmäßig mit einer Farbe bemalte Leinwände. In der Musik hat John Cage eine auf den Takt genau begrenzte Stille komponiert, und Luis Borges erzählte von ganzen Bibliotheken, die gefüllt sind mit Büchern, in denen jeweils nur ein Wort oder Buchstabe steht. In allen Künsten fasziniert die bis an die Grenze gehende Reduzierung, nur die Filmkunst ist noch so jung, daß in ihr fast immer möglichst viel gezeigt wird. . Aber jetzt gibt es den ersten infinitesimalen Film: In Derek Jarmans „Blue“ gibt es nicht ein einziges Bild, sondern 74 Minuten lang sieht man pures Blau. Nur Unreinheiten in der Filmkopie, oder auf der Leinwand bieten etwas Abwechslung für die Augen des Zuschauers – ansonsten ist er alleingelassen mit dem „unendlich tiefen Blau“.

So nennt es einer der vier Erzähler, denn so rücksichtslos, daß er auch noch den Ton wegließ, war Jarman nun doch wieder nicht.

Man kann „Blue“ leicht als formalistische Spielerei mißverstehen, aber Jarman hat seinen letzten Film mit bewundernswerter Konsequenz und Klarheit gemacht: Antikino über das Endstadium seiner Krankheit. Der vor wenigen Tagen an Aids verstorbene Jarman war schon blind, als er den Film produzierte. Er kann uns keine Bilder mehr zeigen, aber dies so radikal wie nur möglich.

Ohne die Bilder werden die Töne wichtig: Originalgeräusche aus Cafés, Arztpraxen und Flughäfen vermitteln ein reales und doch distanziertes Raumgefühl. Die Musik zwischen Erik Satie und Brian Eno scheint auch immer aus der Ferne zu uns herüberzuklingen.

Die gesprochenen Texte wirken wie Tagebuchaufzeichnungen: assoziativ und literarisch. Mal sind es poetische Elegien, dann wieder Erfahrungsberichte oder einfach nur die Liste mit den Namen von Jarmans Freunden, die vor ihm an Aids gestorben sind. Und die lakonische Aufzählung der möglichen Nebenwirkungen von einem Medikament, das Jarman einnahm, hat mir mehr Schrecken vor Aids eingejagt als all die Spielfilme, Dokumentationen und Reportagen zum Thema.

Es scheint, als habe Jarman absichtlich leere Stellen in seinen Film eingebaut: denn oft wirken die Monologe wie Liturgien – nicht der Text sondern der Klang der Stimme wird wichtig und man schwebt ruhig durch den Film. Am Schluß nähert sich der Film dann dem absoluten Nichts: für einige Zeit bleibt auch die Tonspur leer.

Der Abspann wirkt dann fast wie ein Stilbruch. Wilfried Hippen

täglich in der Schauburg, um 18.30 und 22.30 Uhr

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