: Wer hat Angst vorm Euro-Scout?
■ Telematik soll Verkehr vermeiden, hilft aber nur Autofahrern
Seit der Vereinigung leidet Berlin am latenten Verkehrsinfarkt. Die Blechströme stocken an den 30 Jahre unterbrochenen Verkehrsadern. Doch deren sukzessive Öffnung schafft nicht etwa freie Fahrt. Neue Teerbänder lassen den Verkehr heftiger pulsieren, als es für den unter Mauerbedingungen gewachsenen urbanen Raum gesund ist.
Den Weg aus der Verkehrskrise soll die Telekommunikation bringen. Telematik heißt das Zauberwort, präsentiert zum Beispiel von der Telekom. Telematik, das ist der Nachrichtenaustausch zwischen Menschen und Maschinen. Nachrichtentechnische Übermittlungsverfahren sollen personalen Verkehr ersetzen. Und der Verkehr selbst soll via Telematik gesteuert werden.
Ein Beispiel für Telematik ist das „Euro-Scout-System“. Die Verkehrsverwaltung testete es in einem repräsentativen Feldversuch von '88 bis '90 in Westberlin. Vor Fahrtbeginn werden die Zielkoordinaten in das Bordgerät eingetippt. Infrarotsender (Baken) füttern die Leitzentrale mit aktuellen Verkehrsdaten. Das Bordgerät erhält die verarbeiteten Daten und führt den Fahrer optimal durch den Verkehr. Es zeigt ihm an, ob Parkplätze und Parkhäuser belegt sind oder ob ein Anschluß an den Öffentlichen Personennahverkehr möglich ist. Das Ganze inklusive Fahrplanauskunft.
Für dieses System macht sich die Berliner Verkehrsverwaltung stark. Ausgangspunkt ihres Konzeptes ist der Versuch, den „Verkehr flüssig zu halten“, wie es Verkehrssenator Herwig Haase ausdrückt. Der Christdemokrat Haase vertritt ein ausgeklügeltes dynamisches Verkehrsmanagement-System, mit dem er eine „bessere Auslastung“ der Verkehrsströme und Umweltfreundlichkeit garantieren will. Es wird die Installierung eines Verkehrsrechners für die Region Berlin Brandenburg in Erwägung gezogen, der Informationen über den Berliner Ring speichern, verarbeiten und weitergeben soll.
Suggerierte Vorstellung, daß alles fließen könnte
Das Euro-Scout-System setzt eine Infrastruktur von Park & Ride- Möglichkeiten voraus: Parkplätze am Stadtrand mit Nahverkehrsanschluß in die City. Ökologisch scheint das Umsteigen vom Auto auf den ÖPNV sinnvoll. Aber in Park & Ride wird der Verkehr zunächst nur verlagert: an die Peripherien der Stadt. Der Ausbau einer solchen Infrastruktur wird zwangsläufig neuen Verkehr hervorrufen. Stadtrandbewohner, die für ihren Arbeitsweg bisher ganz den Öffentlichen Nahverkehr nutzten, werden zu Teilnutzern. Sie fahren zum citynahen Parkplatz und steigen dort erst um.
Ein negativer Effekt ist auch für die Innenstädte zu erwarten. Eine optimale Versorgung mit Stellplätzen am Stadtrand schafft in der Innenstadt nur scheinbar Freiräume. Jetzt lohnt sich wieder das Einkaufen mit dem Auto. Der Einzelhandel hat wieder seine Kurzzeitparker. Der Flächenverbrauch verhindert sinnvolle Nutzung.
Daß der erhoffte Umsteigeeffekt nur bescheidene Erfolge bringt, zeigt eine Untersuchung des Heidelberger Umwelt-und Prognose-Instituts (UPI-Institut) von 1993. Selbst in München, das ein gut ausgebautes PR-System mit über 15.000 Stellplätzen hat, stieg die Nutzung des ÖPNV als Folge von Park & Ride nur um knapp zwei Prozent. Telematik suggeriert die Vorstellung, daß alles fließen könnte. Aber warum erst einsteigen, um dann umzusteigen? Wer erst im Auto sitzt, der wird damit auch fahren – und zwar wohin er will, und nicht wohin ihn der Euro-Scout lotst. Das Euro- Scout-System verstärkt die Abhängigkeit vom Auto, macht es notwendig.
Informationen über die sinnvolle Nutzung erhält der Telematiker nur als Autofahrer. Das macht das System so widersinnig, weil es keine grundsätzliche Vermeidung beinhaltet: Denn es „...setzt dort mit der Lösung an, wo das Problem entsteht: mitten im Verkehr.“ (Siemens) Die rechnergestützten Systeme wollen Verkehr durch Lösungsstrategien bewältigen, durch Perfektion der Raumüberwindung. Sie sind der Vorstellung verhaftet, große Verkehrssysteme in Gang zu halten. Die Förderung des motorisierten Individualverkehrs steht also nach wie vor in der obersten Rangfolge der Verkehrspolitik. Rolf Engelmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen