: Mächtig unklare Elemente
„Bei Bilbao ist die Lage noch sehr kritisch“: Willy Brandt schreibt Wilhelm Reich aus dem Spanischen Bürgerkrieg
16.4. 37
Ich möchte Dir sagen, daß die Verkrampfung der Bewegung hier einen bedrückenden Eindruck macht. Man ist allzu leicht geneigt, die Erscheinungsformen dieser Verkrampfung in den „nationalen Eigenheiten“ zu suchen. In der Tat: Wie viele Male habe ich nun schon vor Wut Schaum vor dem Mund gehabt angesichts gewisser Züge nationaler Überheblichkeit, besonders bei den Katalanen, ausgeprägter Organisationsunfähigkeit, Ignoranz und notorischer Schlampigkeit. (Mañana bedeutet zwar wörtlich „Morgen“, aber man mißt dafür hier nicht mit 24 Stunden bis zu einem solchen Mañana, sondern ebensogut Tage, Wochen, Monate...) Wie häufig habe ich daran gedacht, was ein Freund mal über die Spanier gesagt hat: daß sie Jahrhunderte mit dem Hintern zu Europa gestanden haben! Und in der Tat: Wie deutlich merkt man diesen Spaniern, eben auch dem unseren, an, daß er bis in jüngste Zeit kräftig in den Klauen der katholischen Kirche war – mit allen Begleiterscheinungen der Heuchelei, Schweinerei, Verkrampfung.
Und doch dreht es sich bei der Verkrampfung, von der ich sprechen wollte, um etwas anderes, nämlich um die Folgen des widerspruchsvollen Charakters der spanischen Auseinandersetzung. Wir haben darüber früher wohl schon gesprochen, und ich habe auch mehrfach dazu geschrieben: Der Krieg, der als Präventivkrieg der Militärbanden, aufgepeitscht durch den internationalen Faschismus, gegen die mächtig anschwellende Volks- und revolutionäre Bewegung begann und dessen Charakter in den ersten Monaten vorwiegend die Merkmale einer Auseinandersetzung zwischen den bisher unterdrückten und unterdrückenden Klassen trug, hat seitdem infolge des Steckenbleibens des sozialen Umformungsprozesses und des massiven Eingriffs der internationalen Konterrevolution (beides ist wieder nicht voneinander zu trennen) beherrschender den Charakter eines Unabhängigkeitskrieges des spanischen Volkes angenommen. Das führt mit sich die komplizierte Verflechtung von progressiven und regressiven Elementen.
Als Marxist muß man sich zur Aufgabe stellen, ihnen [...] Die Streitigkeiten nur auf unserer Seite sind natürlich mehr als Ausdrücke von Giftmischerei und Böswilligkeit. Sie entspringen zwei Auffassungen über den Charakter der Bewegung, der Auffassung, die die Grenzen des parlamentarischen Demonstratismus nicht überschreiten und das Weitergeführte in diese Bahn zurückführen möchte, und jener, die in der Durchführung der proletarischen Revolution die Voraussetzung für den Sieg an der Front sieht. Für mich ist es absolut klar, daß Krieg und Revolution untrennbar verbunden sind. Für mich ist es aber auch klar, daß unser Bestehen im Krieg an der Front über die Sicherung der revolutionären Errungenschaften und daß militärische Durchbruchsiege über Neuentfaltung der revolutionären Energien entscheiden. Weil der eigentliche Charakter der blutigen Auseinandersetzung hier unten derart widerspruchsvoll ist, hat weder die eine noch die andere Seite der organisationsmäßigen Front Recht. Ist es so, daß die Anarchisten, vor allem in Katalonien – die revolutionäre Tradition und das spontan revolutionäre Drängen der Massen verkörpern, so sind sie doch auch Ausdruck für eine Fülle phantastischer, zurückgebliebener, mächtig unklarer Elemente, personell und politisch; ist es so, daß die PCUM in der strategischen Ausrichtung in mancher Hinsicht am richtigsten analysiert hatte, so repräsentiert sie doch zugleich ein Element der Dogmatik, des Parteiimperialismus und des Sektierertums; ist es so, daß die K.P. und die katalanische PSUC im Gefolge der Politik der Sowjetunion eine falsche Konzeption zum Charakter der spanischen Kämpfe haben, so stellen sie andererseits denjenigen Faktor dar, der die Notwendigkeiten, die sich aus dem heute überwiegenden Element des Unabhängigkeitskrieges ergeben, am energischsten durchzusetzen bemüht ist. Ich sagte vorhin, daß der gesellschaftliche Umformungsprozeß – die soziale Revolution – steckengeblieben ist. Katalonien, Barcelona, waren am weitesten voran, blieben aber dann unfähig, weder den [...] neulich nach meinem Besuch in Valencia schon geschrieben habe: Im Vergleich zu Barcelona wirkt Valencia viel ernsthafter, weil kriegsnäher, entschlossener. Barcelona mit seinem Gezänk, seiner Etappenstimmung wirkt operettenhaft dagegen, wie es ein Bekannter nannte. Und gleichzeitig – und das ist eben kein Widerspruch, sondern Ausdruck für das, was ich beweisen will – ist Valencia das viel, viel bürgerlichere Nest, Barcelona gibt viel, viel stärker Ausdruck für die revolutionäre Arbeiterschaft. Madrid erst gar ist schon überwiegend geprägt durch die neuen – und alten – Offiziere des Ejercito Popular (Volksheer).
Trotzdem lehne ich ab, ohne weiteres vom jetzigen „Triumph der Konterrevolution“ zu sprechen. Später noch dazu. Zunächst die Frage, die häufig aufgeworfen wird: Was ist mit dem Geist unserer Kämpfer an der Front? – Sie, die hinausgegangen sind, den Faschismus zu schlagen und dem Sozialismus zum Siege zu verhelfen, wie verhalten sie sich gegenüber den neuen Tatsachen, die heute geschaffen werden? D.h., wie verhält sich der alte Miliziano gegenüber seiner Verwandlung in einen Soldaten des Volksheeres? Es wäre falsch, zu verheimlichen, daß eine ganze Reihe von Genossen, gerade auch unter den Internationalen, mißmutig geworden sind oder gar die Flinte ins Korn geworfen haben. Besonders bei den Anarchisten sind eine Menge solcher Fälle festzustellen, wo sich die Genossen verraten fühlen und in den Sack hauen. Aber da mußt Du gleich
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wieder darauf aufmerksam sein: Hier verquickt sich das Element der Aufbäumung revolutionärer, fortschrittlicher Arbeiterkräfte mit dem der Disziplinwidrigkeit, der Nichtbereitschaft zur Einordnung in eine große, gemeinsam ausgerichtete Kolonne, also mit durchaus rückschrittlichen Faktoren.
Keine der antifaschistischen Kräfte hat sich gegen die Schaffung des Mando unico (des Einheitskommandos) stemmen können. Allerdings haben nicht alle dasselbe darunter verstanden. Nachdem nun aber auf der allgemein- politischen Ebene die Zurückverlagerung auf die Achse [...] Ebene vollziehen, die nicht die sozialistisch-revolutionäre genannt werden kann. Wir haben es unseren Begriffen nach mit der Errichtung der alten Disziplin zu tun, aber im Dienst einer progressiven Sache, im Dienst des Sieges über den Faschismus – eine Entscheidung von weltgeschichtlicher Bedeutung. Und dieses Empfinden: Wir müssen den Faschisten das Fell gerben, und dazu müssen wir die Knochen zusammenreißen – und wenn's auch schwerfällt. Im ganzen wäre es völlig verfehlt, von Müdigkeit an unserer Front zu sprechen. Unsere Militanten stürmen vor und immer wieder vor unter dem Ruf: Passaremos (wir kommen durch)! Und selbst dann, wenn sie materiell weit unterlegen sind. Ich setze alles auf unsere Front. Guadalajare, Cordoba, die neue Aktivität an der Aragonfront, das gibt Anlaß zu den optimistischsten Perspektiven. Bei Bilbao ist die Lage noch sehr kritisch; könnten wir nur endlich bei Huesca durchhauen, dann würden wir sie zwingen, sich aus dem Baskenland zurückzuziehen.
Ich habe neulich von der Normalisierung im Hinterland geschrieben. Beschneidung der Komitee-Rechte, Verstöße gegen Kontroll-Patrouillen, rote Fahnen von den Fabriken herunter – das sind Dinge, die für sich sprechen. Und wieder steht hier ein Aber: Normalisierung war notwendig, die Komitee-Wirtschaft war unhaltbar. Die Notwendigkeiten des Krieges zwangen zur Bereinigung der Verhältnisse. Wir brauchen Zentralisierung, weil wir Schlagkraft brauchen. Wir brauchen eine Armee, eine Sicherheitskörperschaft. Wir brauchen eine leistungsfähige Kriegswirtschaft und nicht den „Gewerkschaftskapitalismus“, der sich in vielen Fällen aus den Kollektivierungen der Betriebe ergeben hatte.
Wir stehen einer gefährlichen Teuerung der Lebensmittel gegenüber. Da müßte mit eiserner Hand zugegriffen werden. Vor drei Tagen haben wir hier Frauendemonstrationen der Anarchisten erlebt, die einem Eierhändler (oder mehreren) die Ware zu Matsch gemacht und ihm [...] barer Weg. Agenten haben sich eingemischt, solche, die weiterhetzten, und solche, die gegen die „Kontrolle“ agitierten. Wir brauchen staatliche Zentralisierung der Lebensmittelversorgung, wie wir allgemein Kriegszentralisierung im Hinterland brauchen.
Dazu bedarf es aber einer wachsamen Bewegung, die Mißbrauch zu verhüten weiß. Und da liegt ja gerade der Haken: Statt der Tätigkeit der revolutionären Massen war das der Organisationen da, die geradezu alles taten, die Masseninitiativen nicht zur Entfaltung kommen und jedenfalls nicht über den Organisationsrahmen hinausreichen zu lassen. Und dazu dann noch die vielfach unterschätzte Tatsache, daß die Organisationen viele ihrer Besten verloren haben, während der größere Teil der Wertvollsten heute von der Front aufgesogen ist. Bei dem, was übrig bleibt, kann jeder, der sehen will, sehen, daß die Bürokratie keine nationale russische Pflanze ist, sondern daß sie hier womöglich noch üppiger gedeiht. Wir werden alle noch schwer daran zu knacken haben.
Die Kleinbürger haben in demselben Tempo, in dem die roten Fahnen durch die bunten ersetzt wurden, ihre proletarische Aufmachung durch den Sonntagsanzug ersetzt. Man weiß doch schließlich, was sich gehört. Kaum notwendig zu erwähnen, daß im gleichen Maße das „Salud“ durch das „Buenos dias“, das „camarada“ durch das „Señor“ ersetzt wird.
Die schwarz-roten Fahnen, die auf den ausgeräumten Kirchen wehen, sind auch schon mächtig ausgeblichen. Inzwischen sagt die K.P. – entsprechend dem von ihr gekennzeichneten Charakter des Kampfes –, daß allen Religionen die freie Ausübung der Kultur ermöglicht werden soll. Die Mutter soll keine Angst haben, daß der ins Feld ziehende Sohn dort in anderem Sinne beeinflußt wird, als sie es wünscht, heißt es an einer Stelle. Einzelne katholische Pfaffen haben denn auch schon den Mut gehabt, sich wieder einzufinden. (Vom Baskenland abgesehen, wo die Verhältnisse besonders liegen und wo [...] Glauben. Und wir können in Spanien ruhig sagen, daß im großen und ganzen in der katholischen Kirche die Unterdrückungsgewalt und das Faschistennest gesehen wird.
Dir hatte große Sorge gemacht, daß die Frauen aus den Milizen entfernt würden. Und Du bist froh, nachdem Du gehört hast, daß viele Frauen sehr tapfer mitkämpfen. Ich muß Dich da wieder betrüben. Denn es ist tatsächlich so, daß man – zumindest in den mir bekannten Formationen – die Frauen, soweit noch vorhanden, entfernt. Es gibt viele Gründe: a) Durruti hat sich gezwungen gesehen, zu Erschießungen zu greifen, als sich ganze Gruppen von Prostituierten in der Form von Milizianas an die Front geworfen hatten. b) Als wir das letzte Mal an der Front waren, kam dort ein Schweizer Genosse mit seiner Frau an, die nur einige Zeit als Journalistin dortbleiben wollte, nachdem sie vorher schon als Miliziana gedient hatte. Die Genossen nahmen aber den Standpunkt ein: Frauen können wir hier nicht gebrauchen. Länger als einen Tag kann sie nicht hierbleiben. Und sie mußte am nächsten Tag nach Barcelona zurückfahren. c) Als auf dem ZK-Plenum der J.C.I. die Genossin Santiago über die Mädelfrage zu referieren begann, begann gleichzeitig Gelächter, und es hat fast während der ganzen Behandlung des Punktes nicht aufgehalten. – Das nur, um einige Beispiele zu nehmen. Es gäbe viel dazu zu sagen. Zu tun noch mehr. Aber wir stehen im Krieg. Und die hiesige Frauensektion ist vom Exerzieren (das sich auf den Bildern fand, die ich Dir neulich schickte) zum Nähen übergegangen. Und die Literatur über die Frauenfrage beschränkt sich auf „klassische“ Übersetzungen. An den Zeitungsständen mischt sich die Neukonjunktur der guten und schlechten Aufklärungsliteratur mit der alten Konjunktur (die bestimmten Pfaffen viel Geld brachte), der Pornographie. Das Publikum verwechselt leicht das eine mit dem andern.
Die Jugend hat insgesamt eine hervorragende Rolle in den Kämpfen gespielt. Aber sie wurde in den Partei- und Organisationsgrenzen gehalten. Nicht einmal über die sozialen Fragen sind manche „Jugendführer“ unterrichtet, viel weniger noch über die kulturellen. Die Anarchisten machen in diesen Fragen ernsthafte Versuche des Durchbruchs, während bei der Vereinigten Jugend Ansätze einer – wenn auch falsch ausgerichteten – Jugendbewegung da sind. Die Prostitution ist weiterhin die Form des Geschlechtslebens der Jugend. Die Macht der Kirche hält an, selbst da, wo schwarz-rote Fahnen über zu dem nützlichen Zweck des Materiallagers umdisponierten Kirchen wehen...
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