: „Unfähig, sich von rechts bedroht zu fühlen“
■ Der Publizist Ralph Giordano kritisierte Regierung und Bevölkerung
Die ausländerfeindlichen Tendenzen in der Bundesrepublik sind nach Ansicht des jüdischen Schriftstellers und Publizisten Ralph Giordano „die Quittung dafür, daß sich beide deutsche Staaten durch Verdrängung am Leichenberg der Nazis vorbeizumogeln versuchen“. Weder der westdeutsche Staat noch die Bevölkerung hätten den faschistischen Ungeist auf den „Kehrichthaufen der Geschichte“ geworfen, beklagte Giordano am Montag abend in einem Podiumsgespräch der Konferenz „Erinnerung an die Zukunft“.
Die Verantwortlichen des Völkermordes an den Juden seien in der Bundesrepublik nicht verurteilt worden und hätten nach dem Krieg ihre Karriere bruchlos fortgesetzt. In der DDR habe der plakativ verordnete Antifaschismus eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unmöglich gemacht, sagte der Schriftsteller. Deutschland sei das „größte Wiedereingliederungswerk für Täter, das es je gegeben hat“. Die jungen, orientierungslosen Schläger stellten mit ihrer Gewaltbereitschaft nur „die Spitze des Eisberges“ dar. Die zahlreichen legal gegründeten neofaschistischen Vereinigungen in der Bundesrepublik und die schweigende Zustimmung der älteren Generation seien der „giftige Humus“ für diese Auswüchse.
Der Regierung warf Giordano vor, den „Todfeind nach wie vor links“ zu sehen. Es sei für ihn zweifelhaft, ob die Regierung überhaupt fähig sei, „sich von rechts bedroht zu fühlen“. Der Staat habe das Gewaltmonopol, ohne es selbst zu bemerken, bereits an die rechte Szene abgegeben, kritisierte er. Dennoch befürchte er nicht, daß sich die Geschichte Nazi-Deutschlands wiederholen werde, betonte der Schriftsteller. Doch dies lindere die Furcht vor Deutschland im Ausland in keiner Weise.
Auch der Altbischof der Berlin- Brandenburgischen Evangelischen Kirche, Albrecht Schönherr, sieht „keine aktuelle Gefahr eines neuen Faschismus“. In der neofaschistischen Bewegung sei kein „Führer mit der Demagogie eines Hitlers“ erkennbar. epd
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