: Sind sie nicht wie kleine Wilde?
Feldforschung auf dem Schulhof: Kinder im Blickfeld der Ethnologie ■ Von Alke Wierth
„Drei mal drei ist vier, widewidewitt und drei machte neune, ich mach mir die Welt widewidewie sie mir gefällt“: Pippi Langstrumpf war meine Heldin im Widerstand gegen die Welt meiner Eltern, in der man keinen Affen als Haustier halten, Pferde nicht einfach hochheben und als Mädchen nicht Kapitän werden konnte. Mein Liebster hatte sich eher mit Tom Sawyer identifiziert – das liefert vielleicht schon Hinweise auf die Existenz und Beschaffenheit einer autonomen Kinderwelt: Geschlechterunterschiede waren uns offensichtlich bereits irgendwie klar, und vielleicht auch, daß Mädchen eine Heldin mit Zauberkraft brauchen, um sich der Erwachsenenwelt zu widersetzen, während für Jungen eine gut ausgewachsene Portion Frechheit schon ausreicht.
Wenn man groß ist und weiß, wo die Eltern irrten (Kapitänin) und wo sie recht hatten (Affe/ Pferd), hat man meist auch schon die Erfahrung gemacht, wie schwer es Erwachsenen fällt, sich in die Phantasiewelt von Kindern zu versetzen. (Eine Berliner Volkshochschule bietet bereits Seminare an, die Erwachsenen mit Spielen/Märchen etc. die Kindheit wieder erfahrbar machen sollen.)
Die Sozialanthropologin Charlotte Hardman hat sich zu diesem Zweck auf einem englischen Schulhof kräftig schubsen und an den Haaren ziehen lassen – ihr Bericht ist einer von vierzehn aus der Anthologie „Kinder. Ethnologische Feldforschungen in fünf Kontinenten“.
„Sind sie nicht einfach wie kleine Wilde?“ – so kommentiert eine Lehrerin gegenüber Hardman die Kinder auf dem Pausenhof. Und tatsächlich erscheint deren Spiel auf den ersten Blick unordentlich, regellos und in diesem Sinne wild.
Kinderstube der Menschheit
Aber in dieser Bemerkung liegt noch ein anderer Gedanke: Da die Vorstellung von den „primitiven“ Stammesgesellschaften als „Kinderstube der Menschheit“ und insbesondere die vom „edlen Wilden“ – als keinen gesellschaftlichen Einflüssen unterworfener und damit ursprünglicher und natürlicher Mensch – aufgegeben werden mußte, liegt es nahe, Kinder an seine Stelle zu setzen: als naive, nicht vergesellschaftete und damit gute Menschen (die wünschte sich beispielsweise Herbert Grönemeyer an die Macht).
Tatsächlich stellt Charlotte Hardman (obwohl sie sich ausgerechnet einen Schulhof als Forschungsort ausgesucht hat) fest, daß die Kinderwelt eigene Regeln und Gesetze hat – doch bei groben Verstößen oder harten Konflikten ziehen die Kinder gerne erwachsene Autoritäten als Schlichter heran. Und, so kann man anderen Beiträgen des Sammelbandes entnehmen, ist die Autonomie der Kindheit bei den „echten Wilden“ eher noch begrenzter als in modernen Gesellschaften.
Ein bedrückendes Beispiel für die totale Einschränkung von Kindheit liefert die Osloer Anthropologin Unni Wikan in ihrer Beschreibung vom Kinderleben in Kairoer Armenvierteln. Hier, wo Mütter aus Angst, ihre Sprößlinge könnten zu halbkriminellen Straßenkindern werden, ihnen fast nie die engen und überfüllten Wohnungen zu verlassen erlauben, erscheint die Kindheit nach unseren Maßstäben als Tortur, Erwachsenwerden geradezu als Rettung.
Dennoch gelingt es, so Wikan, vielen der in den Slums Aufgewachsenen, ihren eigenen Kindern bessere Lebensbedingungen und Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten.
Demgegenüber haben in Stammesgesellschaften aufwachsende Kinder tatsächlich in vieler Hinsicht größere Freiräume, manchmal sogar eine gewisse Autonomie, eine Phase, in der sie von der Befolgung bestimmter Regeln ausgenommen sind: „Das ist nicht menschlich. Dieses Kind scheißt einfach!“ und „Reg Dich nicht auf. Laß es nur scheißen!“ – damit, so die Ethnologin Jean Lydall, kommentieren Frauen des äthiopischen Hamar-Volkes die unkontrollierte Darm- und Blasentätigkeit ihrer kleinen Kinder.
Mit solchen Extrawürsten ist es aber bald vorbei: Besonders für Gesellschaften, die auf Selbstversorgung angewiesen sind, ist die Arbeitskraft der Kinder unverzichtbar. Holzsammeln oder Wasserholen, Tierehüten oder Essenkochen: bereits kleinste Kinder leisten Beiträge, auf die die Gemeinschaft schwer verzichten kann. Da erscheint es nur logisch, daß viele der Spiele, die die in diesem Buch versammelten EthnologInnen bei ihren kindlichen Forschungsobjekten beobachtet haben, auf das Erwachsensein und auf Geschlechterrollen vorbereiten und erwachsene Tätigkeiten nachahmen.
Freiräume bleiben aber: Die Anthropologin Edith Turner, die mit ihrem Mann Victor und ihren Kindern bei den Ndembu in Sambia war, beobachtete dort ein karnevalistisches Moment in den Spielen der Kinder: Die ansonsten für gemeinschaftliches Handeln fundamentalen Hierarchien werden im Spiel aus den Angeln gehoben, die Fraktionierungen der Erwachsenenwelt gelten dort nicht.
Mütter als Forscherinnen
Die Beiträge von Edith Turner und Jean Lydall gehören zu den interessantesten des Buches, weil die beiden Ethnologinnen nicht nur möglichst neutrale Beobachterinnen waren: Sie waren als Mütter im Forschungsfeld und deswegen auf besondere Weise gefeit gegen jedwede Romantisierung der Stammespädagogik. Lydall beschreibt eindrucksvoll, wie ihr die Geschlechterrollen der Hamar, sofern sie auch ihren Kindern vermittelt wurden, zu schaffen machten: Sie beobachtet bei diesem „Volk ohne Hosen“ etwas mißtrauisch, wie ihr Sohn von den Männern des Stammes immer wieder aufgefordert wird, besonderen Stolz über seinen pina zu zeigen, während ihre Tochter sich wie die anderen Mädchen beim Tanzen mit Freude von den jungen Männern mit Zweigen schlagen läßt.
Man kann nur vermuten, daß aus ihrem Sohn wahrscheinlich trotzdem kein Macho, aus ihrer Tochter keine Masochistin geworden ist, doch leider läßt das ansonsten hochinteressante Buch hier eine Frage offen: die Frage nach Außenseitern. Wie kommt es dazu, daß Sozialisation manchmal eben nicht so funktioniert, wie es ihre Absicht ist? Wie geht die Gesellschaft mit Außenseitern um, wieviel Abweichung erlaubt sie, wann schreitet sie ein?
Dennoch sei es nicht nur denen empfohlen, die sich für Ethnologie oder Pädagogik interessieren, sondern auch Eltern und denen, die es werden wollen: nicht als Erziehungsberatung natürlich, aber als Lektüre, die die Vorstellung davon, was Kindheit bedeuten, wie sie gestaltet werden kann, mit einer Menge neuer Eindrücke in Frage stellt und bereichert.
Marie-Jos van de Loo/Margarete Reinhart (Hrsg.): „Kinder. Ethnologische Forschungen in fünf Kontinenten“. Trickster Verlag, München 1993. 384 Seiten, Paperback, viele SW-Fotos.
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