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Die Erfindung der Natur

Eine Ausstellung und ein Kongreß „Ästhetik und Naturerfahrung“ in Hannover  ■ Von Rüdiger Zill

Vor kurzem eröffnete im Sprengel-Museum Hannover eine Ausstellung mit dem Titel „Die Erfindung der Natur“. In ihrem Zentrum steht Max Ernsts Frottagen-Reihe „Histoire Naturelle“ von 1926, eine Art Weltentstehungsphantasie, die ergänzt wird durch „surreale Naturbeschreibungen“ von Paul Klee und Wols, aber auch von Arp, Baumeister, Blossfeldt, Dubuffet, Kandinsky und Tanguy, um nur einige zu nennen. Begleitet wurde diese Blättersammlung aus den Kunst- und Wunderkammern der Moderne am letzten Wochenende von einem Kongreß über „Ästhetik und Naturerfahrung“, den die Deutsche Gesellschaft für Ästhetik und das Studium Generale der Fachhochschule Hannover in Zusammenarbeit mit dem Museum veranstaltete. Tagung und Ausstellung bildeten dabei ein glückliches Ensemble.

Was aber heißt „Die Erfindung der Natur“? Hat doch diese Formel jene seltsame Ambivalenz, die es erlaubt, sie sowohl als genitivus subjectivus (die Natur erfindet) als auch als genitivus objectivus (die Natur wird erfunden), als natura naturans und als natura naturata zu lesen.

Die Natur als Erfinderin zeigt sich unter anderem in jener auch mikrokosmischen Formenvielfalt, die immer wieder zu Vergleichen mit der Kunst Anlaß gegeben hat. Christoph Kockerbeck aus Frankfurt erinnerte daher an den monistischen Materialisten Ernst Haeckel (1834 bis 1919), dem alles zur Äußerung der Natur wurde, auch der Mensch und seine Produkte. Aber selbst in ihren niederen Formen, den Radiolarien und Medusen, entfaltete sich dem Hobby- Ästheten Haeckel eine unermeßliche Schönheit. So zeigt dann auch die Ausstellung ein Blatt aus seinem Buch „Die Natur als Künstlerin“.

Daß es zumindest eine Parallele zwischen Kunst- und Naturformen gibt, scheint spätestens in den 50er Jahren Tagesgespräch gewesen zu sein. Bazon Brock erinnerte gelangweilt daran, und die Ausstellung belegt es mit zwei Werken von Willi Baumeister. Baumeister war es auch, der meinte: „Die Kunst verlor den Zusammenhang mit der Beobachtung der Natur und machte sich davon frei, wie sie sich im Laufe der Zeiten von anderen Bindungen löste. Je mehr die Kunst sich davon freimacht, desto mehr wird sie reine Kunst. Der Gewinn der gereinigten eigenen Werte bringt sie aber der Natur näher. Sie bildet – nicht nach der Natur, sondern gleich wie die Natur.“

Aber das neue Verhältnis von Kunst und Natur besteht nicht nur in solch einem Gleichklang. Für die Anmaßungen der Natur, selbst die oberste Künstlerin sein zu wollen, rächt sich die Kunst, indem sie ihre eigene Natur schafft. Der Wechsel vom Subjekt der Erfindung zu ihrem Objekt wird augenfällig in Max Ernsts „Histoire naturelle“.

Deren Vorbilder waren die frühneuzeitlichen Klassifizierungsversuche der Wissenschaften, die sich in den Kunst- und Wunderkammern jener Zeit manifestierten. Darauf weist man in Hannover unter anderem mit zwei Abbildungen solcher Proto-Museen hin, die eine von Ceruti und Chiocco (1622), die andere von Ole Worm (1655). Was uns heute an diesen Sammelsurien nur konfus und kurios erscheint, war aber kein Mangel an Ordnung, sondern ihr Übermaß. Im Bemühen, die überbordende Vielfalt in eine „Ordnung der Dinge“ zu bringen, rivalisierten verschiedene Klassifikationsmöglichkeiten, die sich erst noch in ihrer Testphase befanden.

Wenn dieses Beieinander der rara et curiosa im 20. Jahrhundert einen Widerhall bei Max Ernst erfährt, so geschieht das aber unter gänzlich veränderten Bedingungen. Denn die Wissenschaften haben sich längst auf die Ordnung ihrer Wirklichkeit geeinigt. Wenn Max Ernst also seine surrealen Phantasmen dagegensetzt, so erfindet er trotzig seine alternative Natur. Er zerlegt das Vorgefundene gedanklich und setzt die Elemente im Bild neu zusammen: Aus den Holzstrukturen, die sich die Frottage zunutze macht, entsteht Florales und Animalisches von archaischer Gewalt: „Le Monde perdu“.

Inzwischen scheint die Natur aber ihrerseits zum Gegenschlag ausgeholt zu haben. Denn längst hat sie sich mit Hilfe der Wissenschaft die Resultate des Malers selbst angeeignet. Der Wiener Philosoph Martin Michael Roß erinnerte auf dem Kongreß an das Skandalschwein Astrid, in dessen Erbgut das menschliche Gen eingebracht wurde, das die Abstoßung fremder Körperteile steuert. Auf diese Weise wurde die Sau ein Stück weit humanisiert und damit leichter als lebende Organbank einsetzbar. Man hofft, so die menschliche Körperabwehr zu täuschen, auf daß es möglich werde, auch tierische Ersatzteile zu transplantieren. Roß assoziierte zu diesem neuesten Zuchterfolg englischer Gentechnologen die mythische Pflanze Moly aus der Odyssee.

Als die Gefährten des Odysseus von Kirke in Schweine verwandelt worden waren, ermöglichte Moly deren Rückverwandlung in Menschen. Roß sieht hier zwei völlig verschiedene Naturbegriffe am Werk, und doch entdeckt er in beiden eine fundamentale Ähnlichkeit: Die entwurzelte Moly wie auch Astrid, ihres Innersten beraubt, sind wohl Opfer männlicher Gewalt.

Aber kann man nicht auch sagen, daß die Kunst, wenn nicht schon bei Homer, so doch bei Max Ernst in ihrer imaginären Erfindung der Natur die reale der Wissenschaften vorwegnimmt?

Schließlich gibt es noch eine dritte Art, die Natur zu erfinden, eine Art, die man zwischen den Bergesgipfeln rund um Grindelwald und Chamonix erspähen konnte. Denn der Kunsthistoriker Alexander Perrig nahm sein Publikum mit auf einen faszinierenden Spaziergang durch die Schweizer Alpen und zeigte ihm deren malerische Erschließung im Laufe der letzten vier Jahrhunderte. Was die Zeichner, die in dieser Zeit – sei es allein, sei es in Begleitung von Naturforschern – die Berge durchstreiften, unterwegs dokumentierend zu Papier brachten, war nicht das Ergebnis eines „unschuldigen Auges“, sondern einer Wahrnehmung, die immer schon von Theorie präformiert war. Der antiken Geologie zufolge waren Berge zum Beispiel das Produkt von luft- oder feuerbedingten lokalen Erdblähungen. Das hielt neben vielen anderen noch Johann Jakob Scheuchzer für korrekt, der die Alpen daher auch 1712/13 als Ansammlung separater, zuckerhutförmiger Kegel darstellte. Ein theoretischer Paradigmenwechsel ermöglichte dann jedoch eine andere Wahrnehmung der Alpen. Als 1716 Felix Meyers Darstellungen der Schweizer Bergwelt erschienen, waren sie angeleitet von der neuesten Auffassung, nach der das Gebirge entstanden ist, als die Wasser der Sintflut von der Erde abflossen und dabei einige zunächst ebene Teile zusammenschoben.

Während Perrigs Überlegungen auf die Gipfel der Berge strebten, richteten sich die Gedanken seines Kollegen Hans Holländer in deren Tiefen: „Mundus subterraneus und die Schächte der Zeit“ – das sind die Höhlen. Die imaginäre Vorarbeit schaffte auch für sie die Bereitschaft, neue Dimensionen zu entdecken. Die berühmte Blaue

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Grotte Capris wurde erst entdeckt, als die Romantik sie längst erfunden hatte.

Mit der „Erfindung der Natur“ geht es nie um die Kreation des Ganzen. Es ist eine Chiffre, die für verschiedene Weisen, die Elemente des Natürlichen zu konstruieren, steht: für die imaginative im Surrealismus, die gegenständliche in der Gentechnologie und nun eben auch die begriffliche, die mit der ästhetischen, das heißt der der Wahrnehmung, eng verschwistert ist.

Diese begriffliche Disposition unseres Naturzugangs war dann auch Gegenstand der zentralen philosophischen Debatte dieser Tagung. Sie begann mit dem Vortrag von Ruth und Dieter Groh, der die Entstehung der physiozentristischen Naturauffassung in der frühen Neuzeit zum Thema hatte. In diesem Physiozentrismus werde die Natur zu einem Ensemble von Zeichen, das auf die Weisheit und Güte Gottes deute. Gott sei heute zwar aus der Natur verschwunden, doch werde sie nun selbst zum Subjekt.

Dieser Vorwurf zielte auf Gernot Böhme und seinen Bruder Hartmut. Erst vor kurzem wurde er im Merkur zum Gegenstand einer Auseinandersetzung. Böhmes, hieß es dort explizit, verleugnen das Subjektive und Theoriegeleitete aller Naturwahrnehmung. Die Natur erscheine dabei selbst als Subjekt. So könne für sie etwa ein Morgen eine objektiv heitere Atmosphäre haben. Dagegen müsse man aber festhalten, daß immer nur wir selbst uns in solch einer Stimmung befinden und sie dann metaphorisch auf bestimmte, dafür geeignete Szenerien übertragen.

Hartmut Böhme wollte sich in seinem Vortrag über „Materialismus und Konstruktivismus heute“ nicht in diese falsche Alternative sperren lassen. Natürlich sei es seit Kant eine Trivialität, daß ein jeder Zugang zur Welt subjektbedingt sei, eine naive Wahrnehmung gebe es nicht, auch nicht bei ihm. Und dennoch entfaltete er dann ein Konzept, nach dem unsere Wahrnehmung von Stimmungen in der Natur nicht nur eine Projektion unseres eigenen Befindens sei. Wie wir unseres Selbst auch sonst nur in der Anerkennung eines anderen Selbst gewahr werden, so müßte es auch in unserem Naturbezug etwas Objektives in diesem anderen geben.

Nicht die Natur sei unser Echo, wir seien vielmehr das Echo der Natur. So gebe es in ihr zum Beispiel eine objektive Trauer, der der allgemein verwurzelte Zustand der Trennung und des Todes zugrunde läge.

Damit wurde dann auch Böhmes Bekenntnis zur Subjektbedingtheit unseres Naturzugangs wieder konterkariert durch sein pathetisch-weihevolles Plädoyer für die Empathie, das sich jeder um Klärung ringenden Nachfrage durch Unschärfe entzog.

An dieser Auseinandersetzung, die in den Positionen der Grohs und Hartmut Böhmes ihre deutlichsten Formulierungen fand, beteiligten sich auch Josef Früchtl und Martin Seel einerseits und Gernot Böhme, Rudolf zur Lippe und Heinz Paetzold andererseits. Sie kulminierte in einer Podiumsdiskussion, zu der sich am Schluß Paetzold, Früchtl, Seel und Gernot Böhme unter der Leitung von Jörg Zimmermann zusammenfanden. Daran zeigte sich noch einmal die geschickte Regie der Tagung. Wenn auch der Ästhetiker nur eine Erfindung der Natur ist, dann war das gute alte Mütterchen an diesem Wochenende wohl in heiterer Stimmung.

Die Ausstellung „Die Erfindung der Natur“ ist noch bis zum 8.Mai im Sprengel-Museum, Hannover zu sehen.

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