: Rühe verteidigt die Welt
■ Kabinett verabschiedet Weißbuch: „Krisenreaktionskräfte“ geplant
Bonn (taz) – Deutschland ist eine Kulturnation, und Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) erwirbt sich bleibende Verdienste um die Verbreitung dieser Kultur rund um den Erdball. Von „Verteidigungskultur“ sprach Rühe gestern bei der Vorstellung des Weißbuches 1994 und kündigte gleichzeitig an, daß die künftige Struktur der Bundeswehr es ermöglichen soll, mit sogenannten „Krisenreaktionskräften“ weltweit zu operieren. Unausweichliche Folge: Auch exotische Länder haben damit in Zukunft Gelegenheit, in Gestalt der Bundeswehr mit deutscher (Verteidigungs-)Kultur ihre Erfahrungen zu sammeln.
Das Weißbuch, das die Konzeption der künftigen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und ihre Auswirkungen auf die Struktur der Bundeswehr beschreibt, war gestern vormittag vom Kabinett gebilligt worden. Es ist das erste Weißbuch der Bundeswehr seit 1985.
Wenige Wochen vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Zulässigkeit von Auslandseinsätzen der Bundeswehr hat das Bundeskabinett mit dem Weißbuch eine Verteidigungspolitik festgeschrieben, in der weltweite Einsätze der Bundeswehr eine wichtige Rolle spielen. Rühe forderte die Beteiligung der Bundeswehr an „Friedensmaßnahmen“, wollte sich aber nicht festlegen lassen, ob damit „friedenserhaltende“ oder „friedensschaffende“ Einsätze gemeint seien. Mit den Worten „Der Respekt ist voll gewahrt“ bestritt er, daß die Strukturplanung von Auslandseinsätzen eine Mißachtung des Verfassungsgerichts bedeute, das über Out-of-area-Einsätze in der Hauptsache noch entscheiden muß.
Das Konzept für die Bundeswehrstruktur basiert nach den Worten Rühes auf der Einschätzung, daß die strategische Lage Deutschlands noch nie so günstig gewesen sei wie nach dem Ende der Blockkonfrontation. Die Bundesrepublik sei als Mitglied der Nato, der Europäischen Union und der Vereinten Nationen aber „stets von regionalen und globalen Entwicklungen betroffen“ und dürfe sich ihren Verpflichtungen nicht entziehen, wenn sie ein „verläßlicher Partner“ bleiben wolle.
Mit den Krisenreaktionskräften schreibt das Weißbuch offensichtlich die Schaffung einer Zweiklassen-Streitmacht fest. Die Soldaten der Krisenreaktionskräfte sollen von „hoher Professionalität“ sein und entsprechend ihren Aufgaben gut ausgerüstet werden. Sie sollen überall und unter allen Bedingungen einsetzbar sein und per Lufttransport kurzfristig verlegt werden können. Da Rühe eine Aufstockung des Verteidigungsetats für „unrealistisch“ hält, will er Geld durch Rationalisierung innerhalb der Bundeswehr aufbringen.
Auf der anderen Seite stehen die Wehrpflichtigen, denn an der Wehrpflicht will Rühe nicht rütteln – sie gehöre zur deutschen „Verteidigungskultur“. Die Wehrpflichtigen müssen sich nach den Plänen der Strategen in erster Linie auf die Landesverteidigung konzentrieren. Seine Vorstellungen über den künftigen Gesamtumfang der Bundeswehr darzulegen, weigerte sich Rühe. Nach Informationen von dpa schreibt das Weißbuch den Gesamtumfang auf 370.000 Soldaten fest.
Auch auf Klagen über einen Verfall der Wehrgerechtigkeit und eine zu hohe Zahl von Kriegsdienstverweigerern reagiert das Werk. Rühe kündigte gestern an, die Tauglichkeitskriterien sollten weniger streng gefaßt werden: Auch eingeschränkt Taugliche könnten dann eingezogen werden. Der SPD-Verteidigungspolitiker Walter Kolbow sprach von einem „Weißbuch der Ratlosigkeit“. Es fehlten klare Aussagen zur Stärke der Bundeswehr und zur Ausgestaltung der Wehrpflicht. Hans Monath
Kommentar auf Seite 10
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