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Ein Leben lang Antisemit

In Ungarn begann vor fünfzig Jahren die Deportation der Juden. Heute will darüber niemand mehr reden.  ■ Von György Dalos

Gegenüber dem ungarischen Regierungschef, dessen Ernennung er gewaltsam bei dem greisen Reichsverweser Horthy erzwungen hatte, begründete der deutsche Führer die Okkupation Ungarns in dem altbewährten Propagandastil: „Wir wollen Ihre Souveränität gar nicht antasten, sondern wir schützen Ungarn vor den eigenen Juden. Wenn man das jüdische Unkraut ausrottet, werden die politischen Krisen auch in Ungran aufhören.“

Als diese Worte am 7. Juni 1944 im Schloß Klessheim fielen, waren bereits 290.000 ungarische Juden in deutsche Konzentrationslager verschleppt worden, und jeden Tag rollten neue Züge mit Deportierten in nordwestliche Richtung. Einer der Gründe für die Okkupation des Königreichs Ungarn durch die Wehrmacht am 19. März 1944 war das Mißtrauen wegen der allzu „liberalen“ Behandlung der 800.000 ungarischen Juden. Denn obwohl eine Reihe von Rassengesetzen die Menschenrechte dieser Minderheit radikal einschränkte, war ihr Leben vor der Besatzung nicht bedroht.

Mit jenem „Schwarzen Sonntag“ jedoch begann, woran selbst die pessimistischsten Juden nicht dachten: die „Endlösung“. Neben den Bevollmächtigten des Großdeutschen Reiches, Edmund Veesenmayer, traf in Budapest Adolf Eichmann ein, um die Aktion persönlich zu leiten. Die den deutschen genehme Regierung Sztójay demonstrierte die „unangetastete Souveränität“ des Staates, indem sie dessen Institutionen den Besatzern voll zur Verfügung stellte. Bereits Ende April versprach man dem Reich „50.000 arbeitsfähige Juden“. Als dann die Züge rollten, schien jeder Widerstand verspätet und aussichtslos.

Ebenso spät kam die halbherzige Geste, mit welcher der Reichsverweser die Verschleppung des Budapester Judentums aufzuhalten suchte. Des Ausgangs des Krieges voll bewußt und aufgeschreckt durch die Proteste der Alliierten und der neutralen Mächte ließ Horthy im Juli 1944 die Deportation stoppen. Allerdings nur für kurze Zeit: im Oktober verhalf die Besatzungsmacht der Partei der Pfeilkreuzler um Ferenc Szálasi zur Alleinherrschaft. Das Werk des ungarischen Holocaust wurde vollendet: 560.000 Juden und Zehntausende von Zigeunern fielen ihm zum Opfer.

Horthys verspätetes Anliegen, die Barbarei zu mäßigen, wurde von seinem eigenen Apparat sabotiert – nicht zuletzt von der Führung der Gendarmerie. Der fanatische Judenhaß, die Hitlerhörigkeit von Horthys politischer Elite und der offene Kannibalismus der ihm feindlich gegenüberstehenden Pfeilkreuzler waren dem Reichsverweser unheimlich, der recht wenig von radikalen Lösungen hielt. Bereits 1940 schrieb er in einem Brief Sätze, die als eine Art politisches Glaubensbekenntnis gelten können: „Was die Judenfrage anbelangt, war ich ein Leben lang Antisemit und pflegte niemals Kontakt mit den Juden. Weil ich aber die Erhöhung des Lebensniveaus als eine der wichtigsten Aufgaben der Regierung betrachtete, halte ich es für unmöglich, die Juden innerhalb von einem oder zwei Jahren auszuschalten, denn wir gehen dann zugrunde. Ich war derjenige, der vielleicht am lautesten den Antisemitismus verkündete, aber ich kann nicht ruhig bei Unmenschlichkeiten, törichten und sadistischen Erniedrigungen zusehene, jetzt, wo wir die Juden noch brauchen.“ Ausgerechnet über diesen gemütlichen Zynismus des ungarischen Provinzadeligen beschwerte sich Hitler gegenüber dem slowakischen Klerikalfaschisten Tiso und dem rumänischen Diktator Antonescu. Der Führer war der Meinung, Horthy sei „völlig in jüdische Seilschaften verwickelt“.

Fünfzig Jahre später, im Frühjahr 1994, durfte sich eine „Partei der Weltnation und Volksherrschaft“ in Budapest unbehelligt unter dem Foto des Pfeilkreuzlerführers Szálasi versammeln. Die Wochenschrift des ehemaligen Schriftstellers und Polizeispitzels Czurka („IM Raputin“) veröffentlichte Karikaturen über Oppositionsabgeordnete jüdischer Herkunft im Stürmer-Stil. Ein Ordensbruder der Dominikaner, Zsigmond Dóczy, darf seinen Ordensbruder in Schutz nehmen, der öffentlich behauptete: „Über den ungarischen Holocaust redet man nicht, obwohl das Ungartum eine Menge Opfer hatte, mehr als das Judentum. Um viele Male mehr als das Judentum.“ Die Sprache seines Verteidigers war noch eindeutiger: „In dem Pfeilkreuzlersystem gab es positive Züge. Die Ausrottung der Juden, der man sie bezichtigt, war nicht Teil des Systems. Es war eine Abwehr gegen den jüdischen Geist, die jüdische Dominanz, was aber nicht aus der Pfeilkreuzlerideologie stammt, sondern von viel früher.“

Jemandem, der die postkommunistischen Realitäten in Osteuropa kennt, erscheinen solche Äußerungen als nicht verwunderlich. Beunruhigend ist eher, daß offiziellerseits relativ wenig und das Wenige uneffektiv geschieht. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz der ungarischen katholischen Kirche beispielsweise beschränkte sich zur Affäre Dóczy auf eine lasche „Distanzierung“ und Wiederholung einer Erklärung von vor anderthalb Jahren „Gegen Antisemitismus und Rassendiskriminierung“. Ein Verfahren gegen den Szálasi-Beschützer ist nicht in Sicht – anders als etwa gegen den Basiskatholiken György Bulányi, der wegen der Kritik an der Zusammenarbeit seiner Kirche mit dem kommunistischen Staat bis heute als Unperson gilt. Die Faschistenpartei „der Weltnation und Volksherrschaft“ konnte, obwohl gegen sie ein Verfahren läuft, am Nationalfeiertag, dem 15. März, erneut ihr Idol feiern. Gleichzeitig wird gegen einen Kneipenbesitzer ermittelt, der seine Bar „Marxim“ mit einem roten Stern schmückte, der als „Symbol der Gewaltherrschaft“ verboten ist.

Der Gerechtigkeit halber muß angemerkt werden, daß die Republik Ungarn ein demokratisches Land ist, in dem Antisemitismus und Rassismus keine Massenerscheinungen oder Bestandteile der offiziellen Politik einer maßgeblichen Partei bilden. Ein Phänomen Schirinowski ist zur Zeit nicht möglich. Die offiziellen Dulder extremer Ideologien können nicht als ihre Anhänger bezeichnet werden, doch bar jeder Verantwortung sind sie auch nicht.

Es scheint in diesem Bereich eine gewisse politische Blindheit, ein gestörtes Verhältnis zu der eigenen Geschichte zu geben. Kontinuierlich werden Versuche unternommen, die Zwischenkriegszeit und Horthys Herrschaft zu beschönigen, die Ausschließlichkeit jüdischen Leidens oder die – milde gesagt – nichtdeutsche Beteiligung an dem ungarischen Holocaust, ja selbst dessen Ausmaß zu bagatellisieren.

Regierungsnahe Propagandawerke, so zuletzt die in kümmerlichem Deutsch verfaßte Broschüre mit dem bombastischen Titel „Ungartum und Europa. Chancen und Hoffnungen im Karpaten-Becken“ (1992) bringen es fertig, das Judentum unerwähnt zu lassen. Aber selbst bessere Arbeiten, so eine von zwei ungarischen Autoren geschriebene, für deutsche Leser bestimmte „kleine politische Landeskunde“ (Verlag Bonn Aktuell, August 1993) scheinen die Schwierigkeiten offiziöser Historiker zu demonstrieren. So entstehen Zusammenfassungen der jüngsten Geschichte wie diese:

„Am Don wurde die II. ungarische Armee vernichtet, was das Leben von 140.000 Soldaten forderte. Die Periode vom Frühjahr 1944 ist eine der schwersten und blutigsten der ungarischen Geschichte. Hitler beorderte den Reichsverweser Miklós Horthy zu sich, und während er sich im Oberkommando des Führers befand, besetzten die deutschen Truppen am 19. März 1944 Ungarn. Die deutsche Besetzung hatte massenweise Deportationen, Terror und wirtschaftliche Ausbeutung zur Folge.“

Wer diese Deportierten waren, wie groß ihre Zahl war – warum ist dies weniger wichtig zu wissen als die Zahl der Toten der Don-Katastrophe? Mit Wohlwollen können wir die mangelhafte Beschreibung als Berührungsangst mit einem der peinlichsten Kapitel der neuen ungarischen Geschichte interpretieren.

Doch kann sich die ungarische Demokratie solche Aussparungen am fünfzigsten Jahrestag der deutschen Okkupation nach allem, was darauf folgte, wohl kaum leisten.

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