: Die Kunst der konzentrierten Beiläufigkeit
■ In neun Bildbänden sammelt der Hamburger Fotograf Hans Meyer-Veden persönliche Ansichten der Hansestadt Das Altonaer Museum zeigt jetzt die Bilder seines Stadtteilporträts von Altona Von Till Briegleb
Der erste Reflex bei der Ansicht von Hans Meyer-Vedens Altona-Bildband ist Stutzen. Wo liegt noch dieses mit Pokalen vollgestopfte Schaufenster einer Kneipe, aus der einem die breiten Rücken von am Tresen hockenden Männern entgegenschreien, denen das enge T-Shirt hinten weit aus der Hose gerutscht ist, so daß Haut und Speck zur Straße ausblicken? An der Stelle ist man doch schon tausend Mal vorbeigekommen. Nach längerem, intensiven Betrachten kehrt die Erinnerung zurück: Der Sportclub „Allround“ befindet sich unter der Eisenbahnbrücke Ecke Max-Brauer-Allee / Stresemannstraße. Oder jenes Eckhaus mit der Kneipe vor der Baulücke, von deren Brandwand einen Hans-Jochen Vogel „Im deutschen Interesse“ von einem Wahlplakat der SPD anblickt? Schmunzelnd stellt man dann fest, daß sich dieses Haus mit den „Chemnitz-Stuben“ direkt vor den Fenstern der Redaktion befindet, allerdings zu einer Zeit (1983), in der die taz noch im Nernstweg residierte.
Wer Altona auch nur ein wenig kennt, wird viele Begegnungen dieser Art mit den Bildern Meyer-Vedens erleben und dies ist durchaus Konzept. Denn was der Wahl-Altonaer beobachtet und technisch brillant aufzeichnet läßt sich als konzentrierte Beiläufigkeit bezeichnen. Seine Aufmerksamkeit gilt dem Gestrüpp am Wegrand, Fliesen in Hauseingängen, gewöhnlichen Stadthäusern, vor Jahrzehnten handgemalten Mieternamen an inzwischen abgeblätterten Hauswänden, verwilderten Vorgärten und dergleichen mehr. Genau jene Bestandteile eines Stadtteils also, die seine eigentümliche Topographie leisten, an denen der Blick aber für gewöhnlich nicht haften bleibt, weil deren Reiz die Aufdringlichkeit fehlt. Nicht in den großen Zeichen, den profilierten Monumenten sucht er die Identität eines Lebenskreises, sondern im Detail, im atmosphärischen Rand des Geschehens. Und dort, wo sein Blick sich bei der Spurensuche verankert, wo jene Magie entströmt, für die man besondere Sensoren braucht (eine Wahrnehmung, die nicht ohne pädagogischen Anspruch in seinen Bildbänden gefordert wird), arbeitet Meyer-Veden mit höchster Auflösung.
Sehnsuchtsvolle Spurensuche
Blickachsen, Proportionen, Plastizität und Raumaufteilung sind stets mit kühler Nervosität durchkomponiert, so daß in den Fotografien, oft im Gegensatz zum Dargestellten, eine geradezu perfektionistische Harmonie erreicht wird. Selbst dort, wo ein einzelnes Wilhelmsburger Haus wie der kariöse Rest eines sonst zahnlosen Mundes an einem schmutzigen Kanal steht, entwickelt Meyer-Veden daraus eine Skulptur nach den strengen Formgesetzen einer nahezu klassizistischen Ästhetik. Auch der ausschließliche Einsatz von Schwarz-Weiß-Material und Großbildkamera sorgt für den schmeichlerischen, romantischen Klang seiner Großstadtsinfonie.
Das Alto-naer Museum hat diesem Teil des Oevres von Hans Meyer-Veden, der sich unter dem Titel „Altona“ mit der ganzen Gegend zwischen St. Pauli und Ottensen beschäftigt, jetzt eine eigene Ausstellung gewidmet, die als stimmiger Kontrast zu der auf der selben Etage befindlichen, geleckt-schönen Rainville-Ausstellung gelten kann. Die hier gezeigten Fotos rekurrieren sich mit wenigen Ausnahmen aus jenem Band Altona - Stadt-Teile, der Bestandteil einer neunbändigen Ausgabe von Fotobüchern über Hamburg von Meyer-Veden ist, von denen vier bisher erschienen sind.
Auch wenn der Fotograf die Assoziation der Heimat-Fotografie mit großer Skepsis behandelt, bleibt dieser Aspekt als „Rekonstruktion von Heimat“ (Meyer-Veden) doch der Leitton seines kreativen Akkords. Denn die sehnsuchtsvolle akribische Spurensuche, die sich in seinen Arbeiten manifestiert, besitzt einen starken, gleichwohl kritischen Klang des Heimat-Bewahrens, des Zeitzeugnisses, des Verlangens nach Geborgenheit in einer Nachbarschaft, die sich ihres besonderen, eigenwilligen Aussehens bewußt wird. Als Betrachter schwankt man oft zwischen der Empfindung, hier gelingt die Sichtbarmachung einer verdeckten Schönheit, und dem Unbehagen, daß mit der präzisen Stilisierung Meyer-Vedens soziale Komponenten mit einem schützenden Schmelz entschärft werden. Denn Reportage, der ungeschönte Blick auf Lebensumstände, auf menschliche Befindlichkeit, überhaupt die direkte Kommunikation zwischen den Bewohnern und dem Bewohnten findet in Meyer-Vedens Stadt-Fotografie nicht statt. Auch in seinen anderen Bildbänden zu Hamburg - über das Kontorhaus, die Speicherstadt und den Hafen - ist die Anwesenheit von Menschen und ihrer Arbeitswelt nur in Metaphern und Assoziationen erlaubt. Die Relation des städtischen Raumes zu seinem Erbauer und sein hinter den Fassaden verstecktes Benehmen wird ausgespart und für den unachtsamen Betrachter verdrängt.
Ringen um Integrität
Doch genau jene Konsequenz, mit der Meyer-Vedens Arrangements ohne Menschen bleiben, provoziert eine eingehendere Betrachtung. Und dann, wenn man den emsigen Redner und Selbstdeuter kennengelernt hat, stellt sich heraus, daß die Ent-Menschlichung seiner Bildwelten das Resultat eines zutiefst menschlichen Ringens um Integrität sind. Die Angst davor, durch die eigene Unachtsamkeit den Mitmenschen als dekoratives Objekt zu mißbrauchen, läßt den Hochschullehrerdavon Abstand nehmen, in die Intimsphäre von Persönlichkeiteneinzudringen, mit deren Charakter er sich nicht eingehend beschäftigt hat. Dabei steigert sich seine rücksichtsvolle Vorsicht zu hemmender Übervorsicht, wenn er erzählt, daß „jeder Anklang falscher Töne“ in seiner eigenen Fotografie ihm körperlich schmerzhaft sei. Mit „falschen Tönen“ meint Meyer-Veden alle Formen von rücksichtsloser, sensationsheischender oder den Mensch als Warenobjekt mißbrauchender Fotografie, wie er sie bei seinen professionellen Kollegen beschimpft und bei seinen Studenten verbietet. „Design“ im Zusammenhang mit Fotografie ist ein von ihm oft benötigtes Schimpfwort, um zu erklären, daß die Aura des Menschen einen absoluten Schutz genießt, den man nur mit einfühlender Absicht und verständiger Kooperation seitens des Fotografierten überwinden dürfe. Heutigen Fotojournalisten unterstellt er die blanke Gier nach Beutestücken. Ohne Muse, so sein Credo, ist Fotografie eine Art Vergewaltigung.
Entsprechend sind die beiden Gebiete, auf denen er sich intensiv mit Porträtfotografie beschäftigt hat, Bereiche des Lebens, die jene intensive Einarbeitung in die zwischenmenschliche Zusammenhänge schon aus den Vorraussetzungen heraus bedingen. Als Hausfotograf des Thalia-Theaters unter Boy Gobert und als Bildautor des Buches „Behindert-Sein“ boten sich ihm zwei Gelegenheiten, als die Dramatik miterlebender Bestandteil des Ganzen zu arbeiten. Hinter diesen Anspruch will Meyer-Veden nicht zurück und so ist seine künstliche Verbannung des Menschen von den Stätten seiner Taten als eine künstlerische Entscheidung akzeptabel.
Ästhetisch rückt Meyer-Veden damit in die Nähe der konzeptuellen Fotografie von Bernhard und Hilla Becher und deren Düsseldorfer Schule. Doch wo diese mit Strenge die vergleichende Reihung des Beiläufigen zelebrieren, etwas wenn sie Gasometer, Fabrikwände oder Wassertürme in immer gleicher Perspektive aufnehmen, dort nähert sich Meyer-Veden wieder der narrativen und im sozialen Dokumentarismus verwurzelten Fotografie. Denn indem er die vergessenen Spuren des Menschen bannt, erzählt er über das Gedächtnis. Arbeitshandschuhe hängen auf Leinen oder liegen verloren im Schmutz, Fahrräder und Boote, wie eben abgestellt, rücken den Besitzer in die Lücke des leeren Flurs, Kritzeleien in Speichern, verwesende Stühle am Hafenbecken, vermodernde Pontons oder eine nutzlose Schiffsschraube im hohen Gras wirken wie Gedächtnisorte für eine Rede von der Schwere des Daseins.
Melancholie ist überhaupt ein starker Zug in all jenen Bildern, die Meyer-Veden vom Hafen und seinen angrenzenden Gebieten gemacht hat. Ihnen allen ist eine drückende Atmosphäre gemein, die selbst auf den wenigen Bildern, die im hellen Sonnenlicht aufgenommen sind, nicht völlig verschwindet. Hier wird klar, was Meyer-Veden meint, wenn er von sich selbst sagt: „Meine Seele ist ein schwarzer Stein, aber meine Fotos sind wie Mineralquellen, die daraus hervorsprudeln.“
Meditatives Seins-Gewahrsein
In dem Band Speicherstadt Hamburg aber ganz vornehmlich in seiner Dokumentation der Hamburger Kontorhäuser, zu der der Kunsthistoriker Helmut Hipp eine wissenschaftliche Einleitung geschrieben hat, zeigt sich Meyer-Veden aber auch von der Seite des klassischen Architekturfotografen. Perfekt im Handwerk gelingt ihm das Massige mit dem Filigranen, den Anspruch auf die Berechtigung als Monument mit der verwirrenden Perspektive überraschender Blickwinkel zu vereinen, um so den Charakter eines bestimmten Baustils bis in die Ecken auszuleuchten. Natürlich wird auch hier im Vergleich zur Hamburg-Fotografie der Vorkriegszeit, die im Band über die Speicherstadt mit einigen historischen Fotos vorangestellt ist, wieder überdeutlich, daß es die Korrespondenz des Menschen mit seiner Umgebung ist, die den Fotografien der Harmanns, Koppmanns, Strumpers und wie sie alle hießen, ihren unvergleichlichen Zauber verleiht. Gleichzeitig entwickelt aber die präzise Zeugenschaft der architektonischen Poesie auch ein beinahe meditatives Seins-Gewahrsein, das der Materie neue Dimensionen erschließt. Die Schleuse zur Kunst wie zur Philosophie öffnet sich hier unmerklich aber weit. Die Metamorphose des Objektes zur Skulptur durch den Fotografen transportiert eine ästhetische Feinstofflichkeit, die als Ausdruck einer Suche nach seelischem Gleichgewicht den Betrachter erreicht.
Es bleibt also hinter der harmonischen Fühligkeit stets eine angespannte Widersprüchlichkeit erahnbar. Die Vermeidung der Konfrontation mit den historischen und sozialen Wirklichkeiten wird kompensiert durch die liebevolle und beinahe schüchterne Aneignung einer paradiesischen Welt der Seitenblicke. Darin findet sich die nostalgische Sehnsucht nach einem Hamburg als Fußgängerstadt wieder, die dem Flaneur und seiner kontemplativen Betrachtung der stillen, heimlichen Schönheit endlose Landschaften offenbart. Hans Meyer-Veden ist der Archivar dieser Welt.
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