: Biathlon nach Gehör
Auch die Paralympics in Norwegen litten unter dem alten unlösbaren Dilemma: Weniger Schadensklassen oder mehr Gerechtigkeit? ■ Aus Lillehammer Reinhard Wolff
Torbjörn Ek war 19 Jahre, als er die Lebersche Augenkrankheit bekam: „Bis dahin hatte ich keine Probleme mit den Augen. Plötzlich wurde es immer schlechter, erst die Brille, und dann war fast alles weg.“ Das war vor acht Jahren. Torbjörn sieht nur noch schwach die äußersten Konturen des Sichtfelds. Mittendrin ist alles schwarz. „Vielleicht treffe ich deshalb so gut ins Schwarze“, flachst er. Jedenfalls war er der einzige im 19 Personen starken Startfeld für den 7,5- km-Biathlon-Wettbewerb bei den Paralympics, der zehnmal ins Schwarze traf. Auch wenn's beim Laufen nicht so gut ging, die Silbermedaille war ihm damit sicher.
Torbjörn, leidenschaftlicher Sportler, der er war, gab wegen seiner Behinderung sein Hobby nicht auf. 400 Stunden hat er für die Paralympics trainiert. Seine fünfte Wettkampfsaison ist das jetzt. „Skilaufen konnte ich ja schon vorher. Und das Schießen übe ich seit fünf Jahren.“ Mit dem Gehör. Hinter der zehn Meter vom Schützen entfernten Zielscheibe von 40mm Durchmesser ist ein Sender mit einem Tonsignal installiert, das um so lauter wird, je näher die Gewehrmündung der Mitte der Schießscheibe kommt. Gute Ohren muß man also haben. Hatte Torbjörn die besseren Ohren, konnte einer wie schon in Albertville viel schneller laufen: der Deutsche Frank Höfle, der zwar die Hälfte seiner Schüsse danebensetzte, aber trotzdem mit vier Minuten Vorsprung ins Ziel kam.
Womit nichts gegen die Schnelligkeit von Torbjörn gesagt sein soll, von der auch Christer Wennergrund, sein „Führer“ auf der Langlaufloipe, ein Lied singen kann: „Ich war zu langsam für ihn, deshalb überholte er mich.“ Die sichtbehinderten Sportler haben einen Vorläufer bei sich, der ihnen die Kommandos geben soll. Normalerweise. Bei Torbjörn wurde er zum Hindernis. Und daran ist auch Christer nicht schuld, sondern eine Crux des gesamten Behindertensports: kein Geld. Christer: „Meine Skier waren viel schlechter als die Torbjörns. Für ihn haben wir ein Spezialwachs, das kostet 200 Mark die Dose und reicht für drei-, viermal. Das müssen wir für die Sportler selbst reservieren. Deshalb passieren solche Sachen.“
Ein Kreislauf ohne Ende: Der Behindertenleistungssport kriegt kein Geld, weil er ein Schattendasein fristet. Er fristet ein Schattendasein, weil die Veranstalter, bis hin zum IOC, das ihm jetzt auch noch den Gebrauch der abgewandelten fünf Ringe, der fünf Tropfen, verboten hat, mit ihm kein Geld verdienen können. Und solange das Schattendasein andauert, besteht ein extremes Leistungsgefälle, aufgrund dessen die Sportwelt dem Behindertensport die Akzeptanz versagt. Lillehammer ist da keine Ausnahme. Was nutzen offizielle Unterstützung und große Worte, wenn man versäumt, die Wettbewerbe auch nur für ein bescheidenes Publikumsaufgebot attraktiv zu machen. Hätte Oslo nicht von vornherein eine millionenschwere Garantiesumme bereitgestellt, hätten sich die fehlenden Zuschauerzahlen in einem gewaltigen Defizit niedergeschlagen. Auch jetzt wird Norwegens Staatskassse nicht arm werden; nicht einmal die Hälfte der Gelder für die Eröffnungsfeier der Olympischen Winterspiele fließt in die gesamten Paralympics. Und auch dies ist mehr, als der Leistungssport der Behinderten gewohnt ist zu bekommen.
Bei David Sundström zumindest ist die gesamte Mitschülerschaft ein lautstarkes Publikum. Die 9b der Zentralschule von Kil konnte mit ihm die Goldmedaille im Super-G für Blinde feiern. Sie waren angereist, als sie gelesen hatten, daß man ihrem David den Start beim Abfahrtslauf verweigert hatte. Angeblich weil die Bahn am Hafjell zu gefährlich für Blinde sei. Was David Sundström – Schnittgeschwindigkeit am Abfahrtshang 40 km/h, am Zielhang werden es schon mal bis zu 90 km/h – absolut nicht akzeptiert: „Wir Blinden sind sicherer gefahren als die anderen. Bei den Sitz-Ski-Läufern und den Leuten mit einem Bein war die Ambulanz ja im Dauereinsatz. Der Organisator versucht nur, in den verschiedenen Klassen zu streichen, damit das gedrängte Programm über die Bühne gebracht werden kann.“
Jeder Wettbewerb ist in verschiedene Klassen aufgeteilt, je nach Art und Grad der Behinderung. Die Zahl der verschiedenen Klassen ist in den letzten Jahren schon kräftig zusammengestrichen worden. Vorher war der böse Spruch umgegangen, daß es wohl für jeden gebrochenen Finger eine eigene Klasse gebe. Aber Kritiker meinen, daß eine weitere Verbreiterung der Basis notwendig ist, damit mehr Konkurrenz den Sport attraktiver und akzeptierter mache. Doch die Grenzen werden in Lillehammer sichtbar. Hier hat man die Blinden zusammen mit den Sehschwachen bei Alpinsportarten mehrfach in die gleiche Klasse gesteckt. Mit dem Erfolg, daß erstere mit der Konkurrenz im Kampf um die ersten Plätze nicht mithalten konnten. „Welcher blinde Jugendliche wird dann überhaupt noch mit alpinem Sport anfangen“, fragt David.
Er hätte außerhalb der Blinden- Gruppe keine Chance gehabt, glaubt er. Acht Läufer starteten in Davids Klasse. Drei kamen bis zum Ziel. Jeder erhielt also eine Medaille. Auf die 491 Aktiven dieser Paralympics warteten 387 Medaillen. „Irgendwie hört sich das schon lächerlich an für einen Sport, der sich als Leistungssport sieht“, meint der 16jährige David. „Aber ich weiß auch nicht, wie's anders gehen soll. Wir können doch nicht mit den Sitz-Ski-Leuten zusammen starten.“
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