: Wir wollen stärkste Kraft werden
■ Interview mit dem SPD-Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping: "Soziale Gerechtigkeit als Basis für gesellschaftliche Toleranz und Multikulturalität"
taz: Herr Scharping, Sie sind der Aufsteiger des Jahres. Aber es gibt Vorbehalte gegen Sie in einem Teil des politischen Spektrums – vor allem unter denen, denen sich die SPD in den achtziger Jahren öffnen wollte.
Rudolf Scharping: Das sehe ich so nicht. Die SPD hat sich den Umfragen zufolge bei 40 Prozent stabilisiert. Das ist eine gute Ausgangslage, die ja auch durch das Wahlergebnis in Niedersachsen bestätigt wird. Falls die Frage auf die zuweilen geäußerte Kritik zielt, daß Themen wie die Gleichstellung von Frauen, der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen oder andere in den Hintergrund träten, dann ist das nicht richtig. Sie werden nur stärker bezogen auf das gesellschaftliche Hauptproblem: die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Wiederherstellung sozialer Gerechtigkeit.
Deckungsgleich sind diese Themen aber nicht. Aktuelles Beispiel: Das Regierungsprogramm nimmt die Forderung nach einem allgemeinen Tempolimit zurück und bleibt bei der Mineralölsteuererhöhung recht allgemein.
Die spannende Frage ist, wie man eine ökologisch verträgliche Verkehrspolitik macht. Mit Blick auf den Verbrauch muß man der Autoindustrie gleichzeitig Anreize und verläßliche Rahmenbedingungen geben, damit eine Senkung des sogenannten Flottenverbrauchs möglich wird. Das ist zunächst ein Thema des technischen Fortschritts. Und mit Blick auf das Tempolimit: Man wird der Situation angemessene, differenzierte Lösungen brauchen. Überall nur ein Schild hinzustellen mit einer Höchstgeschwindigkeit ist ja nicht sehr einfallsreich. In reinen Wohngebieten ist Tempo 30 angemessen, man muß den Gemeinden die Möglichkeit schaffen, es auch durchzusetzen. Auf Landstraßen ist eine Geschwindigkeit von 90 oder 100 km/h angemessen, und auf den Autobahnen ist es ein Unterschied, wo ich mich bewege, mit welcher Verkehrsdichte und mit welcher Verkehrsbelastung. Eine vierspurige Autobahn im stadtnahen Umfeld ist etwas anderes als eine sechsspurige irgendwo im Land. Wir haben doch wachsende technische Möglichkeiten, um auf diese unterschiedlichen Situationen angemessen zu reagieren. Wir nehmen das Tempolimit nicht aus dem Programm – in keiner Weise. Nur: Das schlichte Ja oder Nein zum Tempolimit führt zu einer Symboldiskussion und symbolische Debatten sind in aller Regel ziemlich unfruchtbar. Ich sage Ihnen ein Beispiel: Das Land Rheinland-Pfalz ist immer verdächtigt worden, es habe etwas gegen das Tempolimit. Tatsächlich sind 40 Prozent der Autobahnkilometer in Rheinland-Pfalz tempolimitiert, mehr als in jedem anderen Bundesland und mit sehr guten Erfahrungen, was die Unfallentwicklung angeht. Bei einem flexiblen Umgang kann man technische Möglichkeiten und das Verantwortungsbewußtsein der Leute sinnvoll miteinander verknüpfen.
Sie haben dem Land Ihre drei Themen vorgegeben: Arbeit, Arbeit, Arbeit. Wenn wir die SPD heute über Ökologie reden hören, klingt es oft wie drangehängt.
Dann empfehle ich genaueres Zuhören. Ökonomie und Ökologie sind untrennbare Bestandteile der Zukunftsentwicklung. Man darf sie nicht in einen künstlichen Widerspruch zueinander bringen. Sie sind integrierte, aufeinander bezogene, unverzichtbare Bestandteile von zukünftiger Entwicklung. Wirtschaftliche Entwicklung heißt umweltgerechtes Wachstum, heißt aber auch Modernisierung der Volkswirtschaft, heißt auch Modernisierung des Sozialstaates, heißt auch Senkung der Arbeitskosten, heißt auch intelligente Organisation der Arbeit. Es gibt Leute, die glauben, man könne die wirtschaftliche Entwicklung quasi von einem archimedischen Punkt aus betreiben. Ich halte das in einer hochkomplizierten arbeitsteiligen Gesellschaft, die stark vernetzt ist, für ein ziemlich primitives Denken. Es gibt nicht den einen Punkt, von dem aus man die gesamte, komplexe Entwicklung vorantreiben kann.
Ich will mal ein Beispiel dafür sagen. Am Ende der sechziger Jahre ist in Deutschland das Gesetz über Stabilität und Wachstum stark diskutiert worden. Genauer: Weil Karl Schiller die Formel vom magischen Viereck erfunden hatte, wurde ständig über das magische Viereck geredet. Das bestand aus Preisstabilität, aus außenwirtschaftlichem Gleichgewicht, aus Vollbeschäftigung und angemessenem Wirtschaftswachstum. Es muß doch heute möglich sein, daß wenigstens bis drei gezählt wird. Nämlich: Modernisierung der Volkswirtschaft, intelligente Organisation der Arbeit und Modernisierung der staatlichen Tätigkeit, inklusive der sozialstaatlichen. Das muß man umsetzen. Und zur Modernisierung der Volkswirtschaft gehört untrennbar ökologisch orientiertes Wachstum.
Sie wollen den schlankeren Staat und verpflichten sich im Regierungsprogramm auf den Rahmen: keine Erhöhung der Staatsquote, keine Erhöhung der Staatsverschuldung. Sie wären ein Kanzler der Krise. Glauben Sie, daß in der Krise auch Chancen stecken?
Krise? Lassen Sie uns lieber von Herausforderungen reden. Erstens für ein ökologisches Wachstum und zweitens von Chancen für die Modernisierung staatlicher Tätigkeit. Was ist denn der Staat? Aus meiner Sicht auf dem Fundament für Grundwerte und Grundrechte Garant zu sein für zivilisiertes Zusammenleben, Garant für gleiche Chancen.
Welchen Gesichtspunkt man auch nimmt, soziale Unterschiede oder die Gleichstellung von Mann und Frau, ich komme immer zum selben Ergebnis: Der Staat hat die Aufgabe, ein zivilisiertes Zusammenleben zu ermöglichen. Er schafft einen Rahmen für private Initiative, auch für privates Verantwortungsbewußtsein gegenüber der Gemeinschaft, und er hat für gleiche Chancen zu sorgen.
Akzeptiert wird dieser Teil staatlicher Tätigkeit aber nur dann, wenn die Bürger wissen und darauf vertrauen können, daß der Staat so kostengünstig, so effizient und so gerecht wie irgend möglich mit den ihm anvertrauten Mitteln umgeht. Alle drei Gesichtspunkte, Gerechtigkeit, Effizienz und Kostenbewußtsein werden gegenwärtig grob vernachlässigt.
Nur von der Regierung Kohl?
Durch die derzeitige Regierungspolitik und durch einen gesellschaftlichen Trend, der alle Tugenden des „Ich“ wesentlich weiter entwickelt hat als die Tugenden des „Wir“. Da muß man eine neue Balance finden.
Zur Tugend des „Wir“ gehört die Bereitschaft zum Teilen. Das kann man nicht von oben verordnen. Braucht man dafür heute Nationalgefühl?
Nein, überhaupt nicht. Verantwortungsbewußtsein braucht man. Und die Fähigkeit, das Streben nach eigenem Glück in einen gemeinschaftlichen Zusammenhang zu stellen. Jedermann habe die sittliche Pflicht, zum allgemeinen Wohl beizutragen, heißt es in der Präambel der Hamburger Verfassung. Man könnte auch den kategorischen Imperativ von Kant zitieren oder die vier Grundtugenden des Thomas von Aquin. Was auch immer – zivilisierte Gesellschaften kommen ohne den Gleichklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht aus.
Aber das erklärt mir doch nicht, weshalb ich für Leute in den neuen Ländern Zuschläge zahlen soll, und nicht für Leute in Portugal.
Das würde ich auch niemandem vorschlagen. Die innere Entwicklung Deutschlands gegen die globalen Fragen der Unterentwicklung, des Schutzes von Menschenrechten oder des Schutzes von Umwelt im globalen Maßstab auszuspielen, das wäre doch ein absurdes Unterfangen. Aber umgekehrt darf man das auch nicht. Aus den sozialen Problemen in Deutschland, aus Angst, Hoffnungslosigkeit, der Sorge um die Arbeit wächst Aggression. Aus der Aggression wächst die Fremdenfeindlichkeit, der Haß auf Minderheiten, die Mißachtung anderer Kulturen. Gerade diejenigen, die an Multikulturalität, an Respekt vor anderen Auffassungen, an gesellschaftlicher Toleranz interessiert sind, müßten um so stärker auch für ökonomische Stabilität und soziale Gerechtigkeit eintreten.
Das klingt gut...
Das klingt nicht nur gut. Es ist die Wahrheit.
Die Begriffe – Toleranz, Multikulturalität – würden die Grünen sofort unterschreiben. Können Sie Sich einen grünen Außenminister vorstellen?
Ich werde keine Koalitionsdebatten führen, auch nicht durch die Hintertür. Einen politischen Wandel in Deutschland wird es nur geben, wenn die SPD deutlich stärker wird. Aber ich füge hinzu: Mit plattem Unfug – Bundeswehr und Nato auflösen, Sprit sofort 5 Mark – kann man keine Politik machen. Die Verläßlichkeit der Grünen steigt auch nicht, wenn ihre führenden Repräsentanten sofort nach einem Parteitag mit solchen Beschlüssen erklären, so ernst sei das auch wieder nicht gemeint.
Folglich ist ein möglicher Koalitionspartner für Sie schon ausgeschieden?
Noch einmal: Ich führe keine Debatten über Koalitionen.
Herr Scharping, wir haben gar nicht die Koalitionsfrage gestellt...
Sie haben gefragt, ob ich jemanden ausscheide. Ich scheide nur eines aus, nämlich die Große Koalition.
Daß Sie einen Koalitionspartner brauchen werden, steht außer Frage. Folglich interessiert uns Ihr Urteil über die dafür in Frage kommenden Kandidaten.
Das können wir doch alles in Ruhe abwarten. Die Grünen sind, genauso wie die CDU, genauso wie die FDP, ein politischer Gegner. Und selbstverständlich möchte ich viele von denen, die bisher Grüne gewählt haben, genauso überzeugen wie andere, die bisher CDU/CSU oder FDP gewählt haben. Ich schätze die Wähler aller anderen Parteien. Ich hab den festen Eindruck, daß für mögliche Koalitionen das Angebot größer sein wird als die Nachfrage. Das senkt bekanntlich den Preis, marktwirtschaftlich ausgedrückt. Wir wollen stärkste Kraft werden.
Wir geben auf und interessieren uns dafür, was die stärkste Kraft vorhat. Sind Sie zu früh gestartet? Ihr Thema Arbeit ist von allen Parteien aufgenommen worden, Jetzt wird nach den konkreten Alternativen der SPD gefragt.
Jedenfalls hat die Union erstmals erkennbar Sorge, die Regierungsverantwortung zu verlieren. Das ist aus ihrer Sicht berechtigt, aus meiner Sicht gut, und aus allgemeiner Sicht sogar dringend notwendig. Diese Partei muß abgelöst werden, denn es gibt niemanden, der so große Verantwortung für wirtschaftliche Verwerfungen, die größte Massenarbeitslosigkeit, bittere soziale Ungerechtigkeit und die offenkundige Finanzkrise des Staates trägt. Vor allem, das ist mir das wichtigste, hat sie das direkte und unmittelbare politische Grundkapital verspielt, das Vertrauen nämlich.
Wird der leise wirtschaftliche Aufschwung das Blatt noch mal wenden? Die Union baut darauf.
Aber was haben wir denn auf diesem Feld? Leider Gottes, sage ich gleich dazu. Im Dezember 1993 einen scharfen Einbruch; insbesondere bei der Industrieproduktion. Jetzt haben wir leichte Verbesserungen gegenüber einem sehr schlecht verlaufenen Jahr. Das ist ausdrücklich zu begrüßen, und wenn die zarten Wachstumspflänzchen noch stärker ökologisch orientiert wären, noch mehr. Aber jedermann weiß, daß wir ein Wachstum von mindestens anderthalb, besser zwei Prozent bräuchten, bevor sich auf dem Arbeitsmarkt etwas bewegt. Dieses Wachstum werden wir im Lauf des Jahres 1994 leider nicht erreichen. Und wenn es bei dieser ökonomisch platten, für die investierenden Unternehmen völlig unsicheren, wenig verläßlichen Politik bleibt, dann wird sich auch nichts Neues entfalten.
Was sagt Ihr Programm den Wählern: Diese drei Dinge macht die SPD anders und besser?
Die Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, die Sozialpolitik, einschließlich der Hilfe für Familien mit Kindern, und die Lastenverteilung für die innere Einheit. Um mit dem letzten anzufangen: Die für die innere Einheit aufgebrachten Finanzleistungen, die ich ausdrücklich für richtig halte, dürfen nicht weiter auf dem Rücken der Arbeitnehmer und der lohn- und beschäftigungsintensiven Betriebe ausgetragen werden. Denn das zerstört und beeinträchtigt die Wettbewerbsfähigkeit der mittelständischen Betriebe und des Handwerks. Von dort kommen die meisten Innovationen, dort sind die meisten Arbeitsplätze – nämlich 50 Prozent – und dort findet 70 Prozent der Ausbildung statt. Wir beschädigen also unsere wirtschaftliche Zukunft und die soziale Gerechtigkeit, wenn wir den gewohnten Finanzierungsweg über Solidarkassen und Lohnnebenkosten weitergehen. Bei allem ist völlig klar: Natürlich darf sich an der Steuer- und Abgabenquote über das 1995 erreichte Maß hinaus nichts ändern. Aber innerhalb dieses Rahmens muß es aus Gründen der ökonomischen Vernunft und der sozialen Gerechtigkeit Umschichtungen geben.
Thema Außenpolitik. Keine wirkliche Differenzen zur Bundesregierung, das haben Sie auf der Wehrkundetagung gesagt. Diese Bundesregierung hat jetzt ein Weißbuch vorgestellt, das Krisenreaktionskräfte zu Einsätzen in aller Welt vorsieht. Die SPD-Beschlußlage lautet: keine Kampfeinsätze. Was gilt denn nun?
In den Grundorientierungen gibt es keine Differenzen: europäische Integration, transatlantische Partnerschaft, ein verläßliches, möglichst freundschaftliches Verhältnis zu den östlichen Staaten.
Kampfeinsätze oder nicht, das ist doch auch eine Grundsatzfrage.
Bei den Kampfeinsätzen gibt es eine klare Trennlinie und einen massiven Konflikt zwischen SPD und den Regierungsparteien. Wir wollen in den Vereinten Nationen sein und unsere Rechte und Pflichten dort wahrnehmen. Wir sind souverän in der Entscheidung darüber, wie wir das tun. Deswegen sagt die Sozialdemokratie: Stärkung der Vereinten Nationen, Ja zu friedenerhaltenden und humanitären Einsätzen. Der Wiesbadener Parteitagsbeschluß zieht eine Grenze, die wir nicht überschreiten werden: keine Kriegseinsätze à la Golfkrieg.
Wenn Sie Bundeskanzler werden, wie werden Sie den 8. Mai 1995 begehen?
Als einen Tag, der Deutschland vom Faschismus befreit hat. Interview: Tissy Bruns
und Hans Monath
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