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Wang arbeitet jetzt in Peking

Landflucht in China: Millionen suchen jährlich Arbeit in der Stadt  ■ Von Ruth Bridge

Frau Wang und ihre Schwester sind noch keine zwanzig Jahre alt, aber von einer sorglosen Jugend kann keine Rede sein. In abgerissener Kleidung sitzen sie an primitiven Nähmaschinen, 18 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche; sie stellen Lederjacken her, in die sie ausländische Etiketten einnähen. Ihre winzige Fabrik – zugleich auch ihr Schlafzimmer – ist ein einziger Raum in einem bäuerlichen Haus mit Innenhof, abseits eines aufgeweichten Weges in einem Viertel von Peking, das als das Zhejiang- Dorf bekannt ist.

Die Wangs sind nur eine von Tausenden Familien, die aus der Provinz Zhejiang in die chinesische Hauptstadt gezogen sind, um dort das Gold von der Straße aufzulesen. Statt dessen fanden sie eine beschwerliche Existenz in den Außenbezirken der Stadt.

Die Zentralregierung hat immer versucht, gegen diese Mobilität vorzugehen, weil sie ihre Konsequenzen für die politische Kontrolle fürchtete. Doch der Boden wird knapp, und Millionen Menschen können sich nicht mehr in der Landwirtschaft ernähren. „Das Geschäft geht immer schlechter“, sagt ein Einwohner des Zhejiang- Dorfes, „weil mehr und mehr Menschen in dieses Dorf kommen. Die Konkurrenz ist hart, und es ist buchstäblich kein Platz mehr für noch mehr Menschen.“

Die Löhne auf dem Lande betragen durchschnittlich nur ein Drittel jener in der Stadt. In ganz China haben Dutzende Millionen LandarbeiterInnen ihre Heimat verlassen; sie ziehen in das Delta des Perlflusses, in die Küstenprovinz Fujian, an den Unterlauf des Yangtse, in die Städte Tianjin und Peking. Die Zentralregierung fürchtet, die WanderarbeiterInnen könnten die Stabilität in den Städten untergraben. Im Dezember letzten Jahres hieß es optimistisch in der Volkszeitung, der Arbeitsminister habe soeben „ein Programm ausgearbeitet, um die ländliche und städtische Beschäftigung zu koordinieren“, wodurch der Strom der ländlichen WanderarbeiterInnen von den Städten abgelenkt werden solle. Für 1994 wurde eine „rationalisierte Arbeitsmobilität“ vorausgesagt. Bisher scheint das Programm jedoch wenig Wirkung gezeigt zu haben.

Jedes Jahr im Frühjahr, wenn Millionen vom Lande nach den jährlichen Frühlingsfesttagen in die Städte strömen, gerät das Transportsystem des Landes unter enormen Druck. Im Februar kamen über 40 Menschen – darunter mehr als die Hälfte junge Frauen – ums Leben, weil auf dem Bahnhof von Hengyang in der Provinz Hunan eine Panik ausbrach, als die Menschen sich zu einem Zug nach Guangdong in Südchina drängten.

Die Behörden von Shanghai, beliebtes Ziel der Arbeitssuchenden vor allem aus der Provinz Anhui, haben täglich drei Sonderzüge eingesetzt, um den Ansturm der Landflüchtigen zu bewältigen und diese wieder aus der Stadt zu hinauszubefördern. Eine Million drängte zusätzlich in die ohnehin übervölkerte Metropole. Das Arbeitsamt von Shanghai hat kürzlich angekündigt, daß keine ZuwandererIn mehr ohne Arbeitsvertrag in der Stadt bleiben dürfe. Potentiellen Arbeitgebern wird am Bahnhof über Lautsprecher erklärt, daß es illegal sei, hier Arbeitskräfte anzuheuern. Die Provinz Guangdong, in deren Hauptstadt Guangzhou in dieser Zeit täglich bis zu hunderttausend Arbeitssuchende ankommen, hat ähnliche Bestimmungen erlassen.

Überfüllte Züge und Bahnhöfe, die sich in riesige schmutzige Schlafsäle verwandeln, bilden nur einen Teil des Problems. Die Dörfer der WanderarbeiterInnen werden wie das Zhejiang-Dorf zu Ghettos innerhalb der chinesischen Städte. Sie existieren in einer rechtlichen Grauzone.

Einige der Einwohner des Zhejiang-Dorfes haben sich eine befristete Aufenthaltserlaubnis gekauft. Andere haben überhaupt keine Genehmigungen und betreiben ihre Geschäfte ohne Gewerbeschein. Ende letzten Jahres trieb die Polizei alle Menschen ohne Genehmigungen zusammen und schickte sie nach Hause, aber es kommen immer mehr. – Frau Wang und ihre Schwester äußern sich ausweichend auf die Frage, wieviel genau sie verdienen. Sie und ihre Nachbarn leben in ständiger Angst vor dem Finanzamt, das im letzten Jahr eine Razzia gegen die verbreitete Steuerhinterziehung unter den Wanderarbeitern veranstaltete. Die Behörden versuchen außerdem, unter den WanderarbeiterInnen die Maßnahmen zur Geburtenkontrolle durchzusetzen.

Die MigrantInnen in den großen Städten sind ungeliebt, aber geduldet – denn sie übernehmen Arbeiten, die sonst niemand tut. In Peking sortieren etwa 30.000 von ihnen Müll auf den Müllhalden der Stadt. Weitere 220.000 leeren Senkgruben, schaffen in Kohlebergwerken, fegen Straßen oder arbeiten in Gärten. Andere stellen kleine Imbißbuden auf, bieten Schneiderarbeiten an oder bearbeiten kleine Flecken Land.

Dennoch schauen die Einwohner von Peking auf die etwa 1,5 Millionen LandarbeiterInnen herab, die in die Stadt gekommen sind und von denen 82 Prozent ungemeldet in den Vorstädten leben. Sie werfen den Zuwanderern vor, sie seien schmutzig und gesetzlos und hätten die Verbrechensrate in die Höhe getrieben. Das überfüllte, dreckige Zhejiang-Dorf mit seinen rund hunderttausend Menschen wirkt wie eine Bestätigung des Bildes vom Schmutz der WanderarbeiterInnen. Einwohner des Zhejiang-Dorfes sagen, die Behörden erhöben Gebühren für die Polizei und die sanitären Einrichtungen.

Sie behaupten auch, daß die Behörden zwar das Geld nähmen, aber nichts für eine Verbesserung der Bedingungen tun. „Die Wohnverhältnisse sind viel schlimmer als in meiner Heimatstadt“, sagt ein Mann mittleren Alters aus Zhejiang. „Wir haben hier viele Probleme, Diebstähle, Morde, Raubüberfälle, viele solche Dinge. Ich lebe hier seit zehn Jahren und habe mich noch immer nicht daran gewöhnt. “

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