: „Und jetzt fällt hier alles auseinander“
Abwicklung: Sachsen-Anhalts Ministerpräsident tröstet die Belegschaft der Orwo-Filmfabrik ■ Aus Wolfen Eberhard Löblich
„Sie können dort zwar hinfahren, aber in das Gebäude dürfen Sie nicht hinein.“ Der Wachmann hat gut verstanden, wie die Geschäftsführung das Unternehmen in den Medien behandelt sehen möchte: am liebsten gar nicht. Hinter verschlossenen Türen sprachen Vertreter der Geschäftsleitung und des Betriebsrates mit Sachsen- Anhalts Ministerpräsident Christoph Bergner (CDU) und Wirtschaftsminister Rainhard Lukowitz (FDP) über die Zukunft der Filmfabrik Orwo.
Es gibt keine mehr, meint die Treuhand, seit sich die Verhandlungen mit der Investorengruppe um den Schweizer Unternehmer Mario Hauri nicht wunschgemäß entwickelt haben. Gespräche also unter Ausschluß der Öffentlichkeit, Journalisten erfuhren lediglich, daß man „eine gemeinsame Strategie“ gefunden habe.
Der Betriebsrat ist da schon zugänglicher. Zur Belegschaftsversammlung sind sogar Fernsehteams zugelassen. Kalter Wind peitscht über den Vorplatz des ehemaligen Verwaltungsgebäudes an der Haupteinfahrt und reißt die rot-weißen Signalbänder ab, mit denen die Parkplätze für den Besuch des Ministerpräsidenten des Landes abgesperrt wurden. Der graue und verregnete Himmel spiegelt die Stimmung in der Belegschaft wider. Sie schwankt zwischen Resignation und Aufruhr. Und die Resignation hat offenbar schon Oberhand gewonnen.
Regierungschef Bergner war es, der nicht nur die Medien, sondern auch Geschäftsleitung und Belegschaft mit der Nachricht aufschreckte, die Zukunft des Unternehmens sei akut gefährdet. In einem Telefonat mit Treuhand-Vorstand Klaus Schucht habe er erfahren, daß die traditionsreiche Filmfabrik in Wolfen an das Treuhand- Direktorat „Abwicklung“ übergeben worden sei.
Zwar dementierte die Treuhand eilends. Die Abwicklung werde lediglich vorbereitet, hieß es gestern anläßlich eines Tages der offenen Tür in Berlin. Der Unternehmensgruppe um Hauri sei noch eine letzte Frist eingeräumt worden, sich verbindlich zu äußern.
Schönfärberei offenbar, denn der Betriebsratsvorsitzende Hartmut Rönnike weiß, daß die Verhandlungen bereits vom Treuhand-Direktorat Abwicklung und nicht mehr von den Chemiemanagern der Treuhandbehörde geführt werden.
Aber Landesvater Bergner will den Versammelten Hoffnung machen und übt Kritik an der Treuhandanstalt, wie man sie von einem Vertreter der christlich-liberalen Landesregierung von Sachsen-Anhalt sonst nicht gewohnt ist.
Schon jetzt sind in Wolfen fast 40 Prozent der Menschen ohne Arbeit. Dafür hat der Ministerpräsident sogar seinen Terminplan über den Haufen geworfen, sagt er. Gekommen ist er, „um meine demonstrative Solidarität mit diesem Unternehmen“ unter Beweis zu stellen. „Die Entscheidung, diesen Betrieb in die Abwicklung zu übernehmen, ist grundsätzlich falsch. Sie verschreckt nicht nur die Investoren, sondern verunsichert auch Kunden und Zulieferer!“
Und dann verspricht Bergner die Hilfe des Landes. Bürgschaften, Investitionszuschüsse und Sonderzuschüsse zur Unterstützung der geplanten Privatisierung. Aber eine direkte Beteiligung des Landes an dieser Wiege der deutschen Filmindustrie lehnt Bergner weiterhin strikt ab. „Dem Land fehlt die Kompetenz, um sich in unternehmerische Entscheidungen einbinden zu lassen“, antwortet er auf eine Frage eines Mitarbeiters. Der hakt nicht nach, vielleicht leuchtet es ihm ein.
Der große Hörsaal im Verwaltungsgebäude ist zwar überfüllt, aber kein Protest wird laut, keine Transparente. „Das ist so ruhig alles, wir sind ja alle so ruhig“, klagt die Chemielaborantin Anita Richter. „Wenn jetzt in den alten Bundesländern irgendeinem Betrieb die Schließung droht, dann sind die auf der Straße, dann schwenken sie Fahnen und brüllen – und das ist hier überhaupt nicht.“
Die Unsicherheit zehrt an den Nerven: „Es müßte jetzt endlich eine Entscheidung fallen, damit wir wissen, woran wir sind“, findet eine andere Chemielaborantin. Dabei wissen die meisten das schon – oder können es zumindest ahnen: „Über dreißig Jahre bin ich schon hier im Betrieb, und jetzt fällt alles auseinander“, sagt die Konfektioniererin Iris Niebisch, der zum 30. Juni vorsorglich gekündigt wurde.
Bergner und Wirtschaftsminister Lukowitz reden weiter. „Auch die Treuhand muß mit zusätzlichen Finanzhilfen zur Kasse gebeten werden“, fordert der Regierungschef. „Ich sehe nicht ein, daß das Land und die Belegschaft allein für Fehler bluten sollen, für die nur die Treuhand geradezustehen hat.“ Der Verkauf wichtiger Warenzeichen sei ein solcher Fehler gewesen, Tatsächlich hat die Breuel-Behörde im Oktober 1992 das rennommierte Warenzeichen ORWO-Röntgenfilm an Kodak verramscht – Geschäftsleitung und Betriebsrat erfuhren erst durch Zufall im Februar 1993 davon.
Bergner fordert auch die Rücknahme der Galgenfrist für das Investorenkonsortium. Damit drohe die Privatisierung endgültig zu scheitern. Sechs Geldgeber standen hinter dem Schweizer Geschäftsmann, einer stieg aus. Hauri verlangte Nachverhandlungen – hauptsächlich über eine zeitliche Streckung des Investitionsplanes. Die Treuhand reagierte mit dem Ultimatum.
Bergners Worte sind der Strohhalm, an den sich die Ertrinkenden klammern. Der Landesvater wird's schon richten. „Das verplätschert hier alles irgendwie“, findet eine ältere Frau. „Und morgen sind wir plattgemacht.“ Wahrscheinlich hat sie recht. Schon steht Kodak wieder vor der Tür. Nicht um die einstigen Agfa-Stammwerke zu übernehmen, die vor der Wende noch 16.000 Menschen beschäftigt haben. Die Amerikaner wollen nur noch die restlichen Warenzeichen aufkaufen.
Auch Wolfens amtierender Bürgermeister Lutz kämpft gegen die Resignation im Saal. Nicht nur die heute noch 850 Orwo-Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel. Zahlreiche mittelständische Ausgründungen aus dem ehemaligen Kombinat und Neuansiedlungen mit insgesamt mehreren tausend Arbeitsplätzen sind direkt oder indirekt von Orwo-Aufträgen abhängig. „Orwo ist Wolfen, und Wolfen ist Orwo“, donnert Lutz vom Redepult herab, „Magdeburg ist weit, Bonn ist weit, Berlin ist weit: Hier in Wolfen wir für Orwo kämpfen.“
Aus der Treuhandzentrale ist niemand zur Versammlung gekommen. Warum auch? fragt Betriebsrat Rönnike bitter. Für die Direktoren in Berlin gibt es diesen Betrieb doch gar nicht mehr. In kleinen Gruppen gehen die Leute wieder an die Arbeit oder nach Hause. Für den April ist Kurzarbeit beantragt.
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