Metastasen des alten Systems

Die Angst der Italiener, daß das Alte über das Neue siegt / Von der Schönheit der Kandidatinnen und der Unentschlossenheit der Wähler  ■ Aus Neapel Werner Raith

„Schön“, findet Gennaro Acquavera beide, „wunderschön, ja sogar alle drei, auch wenn die dritte schon etwas älter ist“, ganz allgemein „endlich mal was auch für die Augen, nicht so vertrocknete Eunuchen wie Andreotti oder schmalzlockige Playboys wie De Michelis“. Doch, welch Unglück – nun weiß der arme Gianni nicht, wem er seine Stimme geben soll. Zur Auswahl stehen die Enkelin des Faschismus-Begründers Mussolini, Alessandra, die Halbsomalierin Dacia Valent, die für eine „Regenbogenliste“ kandidiert, und Fortuna Inconstante für den „fortschrittlichen Pool“. Gennaro, Obstverkäufer im „spanischen Quartier“ von Neapel, sieht wie die meisten seiner Mitbürger „das Neue schon mit erfreuten Augen“, aber „kommt es auch wirklich?“ Abgesehen von den Augenweiden auf den diversen Rednertribünen hat Gennaro mit seinen Freunden aus der „Spaccanapoli“, der schnurgeraden Gäßchenlinie, die Neapel in zwei Teile zerlegt, „noch kaum etwas entdeckt, was die Parteien wirklich unterscheidet“. Gennaros Schwester Matilde zum Beispiel möchte „endlich mal wissen, wie die nach der Wahl mit dem Tabakschmuggel umgehen“ – ihr Sohn und ihr Neffe, 14 und 16 Jahre alt, wurden bereits verhaftet, weil sie trotz eines ministeriellen Dekrets weiterhin Marlboro- und Meritstangen verhökert hatten.

Nach Auskunft der Polizeidienststellen leben in Neapel und Umgebung mindestens hunderttausend Menschen mehr oder minder vom Schmuggel, und das bei einer Arbeitslosigkeit von 22, bei Jugendlichen gar von 37 Prozent. So hat das Dekret „regelrechte Schneisen in unsere Geldbeutel geschlagen“, sagt Matilde. „Und wovon sollen wir nun leben?“

Tania Cataldo, 54 Jahre, aus Secondigliano, das mit zu den heruntergekommensten Teilen der neapolitanischen Peripherien zählt, hat sich zu so etwas wie einer parteifernen „Pasionara“ entwickelt – sie veranstaltet „Führungen“ für sozial Interessierte durch ihr Viertel. Mit einem verbogenen Löffel kratzt sie ein wenig an Mauern – der Putz, wo noch vorhanden, springt mürbe ab, darunter sieht man Wassertropfen – „genau: Wasser. Das sollte eigentlich in unseren Leitungsrohren fließen, aber schauen Sie her.“ Sie führt uns ins nächste Haus, öffnet den Hahn, ein mattes Gurgeln, dann ein paar Tropfen brauner Brühe, weiter nichts. „Seit vier Jahren kämpfen wir um neue Leitungen“, sagt sie, „und regelmäßig, wenn Wahlkampf ist, werden auch ein paar Rohre angefahren und gut sichtbar am Straßenrand und auf den Piazze deponiert. Nach der Wahl verschwinden sie wieder.“

Dacia Valent, die ehemalige Polizistin, die nach der Denunziation einiger machistischer und rassistischer Bemerkungen ihrer palermitanischen Kollegen vor fünf Jahren in die Schlagzeilen und danach in die Politik geriet, hat mit ihrem eher tristen Blick noch am meisten Überzeugungskraft: Man glaubt ihr, daß sie mitleidet. Nur: „Die hängt da in einer Liste drin, die überhaupt keinerlei Einfluß auf Rom haben wird“, räsoniert Gennaro, „was soll ich sie wählen?“ Die Mussolini mag er irgendwie, vielleicht auch deshalb, weil seine Mutter ab und zu für „Donna Rachele“, die Großmutter Allessandras, Gemüse geputzt hat.

Gennaro hat eine Fahrt nach Kalabrien vor und lädt mich dazu ein. Gemüseverkaufen alleine reicht nicht zum Unterhalt einer sechsköpfigen Familie, nachmittags fährt er mit seinem Kleinlaster Auftragsspeditionen aus, mitunter kommt er erst gegen 4 Uhr früh zurück und muß dann gleich auf den Großmarkt, seine Waren für den Tag kaufen. Ein Leben zum Umfallen – „und doch mußt du hier immer hellwach sein, sonst ...“ er macht die Geste des Gurgelabschneidens. Ist es so schlimm? „Na ja“, reduziert er ein wenig, „umgebracht wirst du nicht gleich, aber in dumme Sachen kannst du reingeraten.“ Sein Bruder sitzt derzeit wegen schwerer Körperverletzung („Dabei war's reine Notwehr“); ein Onkel wurde vor vier Jahren auf offener Straße ermordet („Wahrscheinlich eine Verwechslung mit jemand anderem“), wie er auf der Fahrt erzählt.

Der Weg über die Cilento-Ausbuchtung der südlichen Campania zeigt, daß sich wirklich nicht sehr viel gegenüber früheren Wahlkampagnen geändert hat: Von den Wahlplakaten strahlen zwar nicht mehr die Gesichter der alten Nomenklatura herunter, doch viele davon kennt der gedächtnisstärkere Zeitgenosse dennoch – Bürschchen zumeist, die man vordem im Gefolge der großmächtigen Christdemokraten oder Sozialisten, der Liberalen oder der Sozialdemokraten der Gegend gesehen hat, „Portaborse“ (Taschenträger), wie sie hier abschätzig genannt werden. Wo die mittlerweile allesamt in böse strafrechtliche Verfahren – von Korruption bis zur Bildung mafioser Vereinigungen – verwickelten ehemaligen Minister Gava (Inneres), Cirino Pomicio (Haushalt) und De Lorenzo (Gesundheit) einst ihre Hochburgen hatten, hofften viele auf einen Neuanfang – „und nun wird's noch schlimmer kommen als vorher“, sorgt sich Gennaro: „Diese alten Bullen waren zwar moralische Schweine, kein Zweifel, aber sie wußten wenigstens, wie sie Politik machen mußten, und schlecht ist's Italien, alles in allem, auch nicht gegangen.“ Nun aber „kommen deren Strohleute, und du wirst sehen, die wollen sich bald danach selbständig machen, ihre Bosse stürzen, wie das so geht bei uns – doch gelernt haben die nur das Ausbeuten, nicht aber das Regieren“. Daß der Verfall der alten Garden auch etwas mit deren jahrzehntelanger Mißwirtschaft zu tun hat, sieht Gennaro zwar schon, aber er besteht darauf: „Lieber ein fähiger Sauhund als eine unfähige Kopie von dem.“

Vorbei plötzlich seine Überlegungen über die Schönheit der Kandidatinnen in seinem Stimmbezirk. „Allesamt sollte man sie in die Luft jagen“, schimpft er auf seiner ersten Entladestation in Sapri, einig mit seinen Fahrt-Auftraggebern, die gebrauchte Autofelgen in Empfang nehmen und auch gerne eine Bombe werfen würden, „aber eine große“, sagt Gianni, der Werkstattbesitzer, „sonst bleibt noch einer übrig von denen.“

Auf der Piazza vor der Kirche heben die alten Männer nur die Schultern und verziehen den Mund: „Wir machen das wie immer“, brummt ein Pensionär und deutet mit dem Stock schräg hinter die Kirche. „Da lebt einer der Piromalli“, flüstert Mariello, ein Freund Gennaros aus Schulzeiten, und er erwartet, daß wir wissen, wer Piromalli ist – der potenteste Clan aus dem kalabresischen Gioia Tauro, dessen Mitglieder bis hierher an die Grenze des Camorra- Gebietes eingesickert sind und von dem erst vor zwei Wochen ein halbes Dutzend Mitglieder zu lebenslanger Haft verdonnert wurde. Doch da das Gericht gleichzeitig ausgerechnet den vordem zu fünfmal „lebenslänglich“ verknackten Großvater der Sippe freigesprochen hat, ist hier wieder die alte Angst eingekehrt. „Die werden mit Sicherheit wieder einen der Neffen des Piromalli wählen“, sagt Gennaro beim Weiterfahren, „einen, den sie wahrscheinlich noch überhaupt nicht kennen, vielleicht lebt er derzeit in Amerika und kommt nur, wenn er wirklich Abgeordneter geworden ist.“

In mehr als einem Dutzend Gemeinden, die wir durchfahren, kleben neben den Wahlplakaten auch Bekanntmachungen des Präfekten, die die Auflösung des jeweiligen Gemeinde- oder Stadtrates wegen „mafioser Durchsetzung“ verkünden. Einige dieser Verwaltungen wurden erst im Vorjahr gewählt, und dabei mußte jeder Kandidat ein Zertifikat der regionalen Antimafiakommission erbringen, daß er in keinerlei Verfahren wegen krimineller oder mafioser Bandenbildung verstrickt ist. Es hat wenig genutzt.

In Spezzano Albanese, einer hauptsächlich von Nachfahren albanischer Flüchtlinge des 16. Jahrhunderts bewohnten Kleinstadt im Sila-Gebirge, läuten bei unserer Ankunft die Kirchenglocken, ein paar Jungen sind dabei, weiße Plakate mit Ornamentenrand und nur vier Worten drauf an die Mauern zu kleben: „Assassinato Don Antonio Diana“: Der 35jährige Priester aus dem nördlich von Neapel gelegenen Casal di Principe war vergangenen Samstag während der Vorbereitung zur Heiligen Messe erschossen worden. Es stellt sich heraus, daß wir beide ihn kannten – ich war ihm mehrere Male während Interviews mit dem beherzten Antimafia- und Anticamorra-Bischof Antonio Ribildi in Acerra begegnet, Gennaro hat eine Freundin in der Gemeinde des Ermordeten und hatte sich mit ihm noch vor einem Monat bei einer Veranstaltung getroffen, bei der die Kampagne einiger Priester zum Ausstieg von Camorristen aus ihrer Gangsterlaufbahn besprochen wurde. Der Mord macht Gennaro nervös: „Hier sind überall Spione“, sagt er, „und sicher wissen die, daß ich dort war.“ Vor Angst wird er zunächst noch gesprächiger – er habe die Botschaft des Pfarrers an einige Freunde in Secondigliano überbracht, von denen er hoffe, daß sie zum Ausstieg bereit sind; Freunde, „mit denen ich früher zusammen war“, wie er gleich nachsetzt. Wenig später ist ihm so mulmig, daß er beschließt umzukehren, obwohl er nur die Hälfte seiner Fracht eingesammelt hat. Stumm drückt er das Gaspedal tief nieder, dann bremst er unversehens: ein Anruf bei der Mutter seiner Freundin. Er kommt etwas beruhigt zurück: die junge Frau hat genauso schnell geschaltet wie er und ist zu Freunden gefahren – „wahrscheinlich nach Mailand oder Turin“, sagt er mit einem Seitenblick auf mich, ob ich ihm auf die falsche Fährte folge, was ich natürlich gern tue: sein Mißtrauen nun auch gegen mich ist längere Zeit fast körperlich zu spüren. Doch dann dreht er wieder in Richtung Süden um. „So sind wir halt mal“, sagt er, nachdem er sich wieder gefangen hat, „immer bereit zur Hysterie, immer bereit, das Gegenteil von dem zu tun, was wir vorher getan haben.“

Die Wahlen können da kaum etwas ändern, meint er: „Ich denke, ganz Unteritalien wartet nur darauf, aus dieser Verfilzung von Mafia, Politik und Geheimlogen auszusteigen. Aber du mußt hier ja auch noch Angst haben, wenn auch nur ein einziger dieser Gangster nicht gefaßt wird, so gefährlich sind die. Das ist wie bei den Metastasen vom Krebs – wenn du bei der Operation eine einzige übersiehst, geht der Krebs weiter. Und davor haben wir so viel Angst. Das könnt ihr im Ausland gar nicht nachvollziehen.“

Daß derlei nur für den heruntergekommenen Süden gelten könnte, schließt Gennaro aus: „Du brauchst nur die Fernsehsendungen anschauen, die sie im Norden machen. Im Norden sind die Leute nicht nur genauso unentschlossen wie wir, die haben sogar noch mehr Angst – weil sie nicht gelernt haben, auch mit nichts zu überleben, wie wir das tun. Die haben wirklich etwas zu verlieren, und darum klammern sie sich viel mehr an dem Neuen fest, das dann doch nicht kommt. Wir sind da realistischer. Was wir nicht haben, kann uns keiner nehmen.“

Dann vermischen sich seine Gedanken wieder mit den Bildern des ermordeten Priesters: „Außer dem Leben, natürlich. Aber was soll's, wir leben ja noch, und Don Antonio ist nun ein Märtyrer und wird ja auch in den Himmel gekommen sein. Jetzt trinken wir einen schönen starken Espresso. Und ich werde doch nicht die Mussolini wählen, so schön sie auch ist.“