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Ketchup und Worcestersauce

Ken Loach, Master of Misery, hat vor „Ladybird, Ladybird“ einen Film gemacht, bei dem es Steine regnet: „Raining Stones“, die Geschichte eines Losers, der ein Kommunionskleid für seine Tochter will, ab heute bei uns im Kino  ■ Von Christiane Peitz

Eine englische Landschaft. Saftige Wiesen, sanfte Hügel, ein Bach rieselt im Tal, hier und da grasen Schafe. Man kennt das: ein typisches Kinoidyll, bestens geeignet für den Titelvorspann. Das Auge weidet sich am grünen Gras und hat doch Zeit, ein paar Namen zu lesen. Aber was sich wie der Anfang eines Schäferstündchens ausnimmt, ist ein Vexierbild. Außer den Schafen tummeln sich in der freien Natur auch Tommy und Bob. Und die sind arbeitslos.

Was das an der Landschaft ändert? Auf den ersten Blick nichts, auf den zweiten alles. Mit den beiden Männern wandelt sie sich vom Bild zum Lebensraum, wird gewissermaßen dreidimensional, wirklicher. Hier geht es nicht um Schönheit, Romantik oder Anschauung, sondern ums Überleben. Bob und Tommy brauchen Geld, deshalb stehlen sie ein Schaf, um es zu schlachten und das Fleisch in den Pubs zu verkaufen. Aber ein Schaf läßt sich nicht so einfach fangen. Bob und Tommy stolpern unbeholfen über die Weide; die Tiere knapp verfehlend, fallen sie, rappeln sich auf, rufen einander Ratschläge zu – ein Komikerpaar.

Später, beim Schlachten im Reihenhaus-Garten, zögern sie erst recht. Wie tötet man ein Schaf? Klar, sie wissen, wie das geht, kein Problem, aber dem Schafskopf ganz konkret mit dem Knüppel eins überziehen? Als sie das Tier schließlich zum Schlachter bringen, klärt der einen fundamentalen Irrtum auf. Das Schaf ist ein Hammel, und Hammelfleisch bringt nichts ein. In Manchester sagt man in solchen Momenten, daß es Steine regnet. Die Lage ist katastrophal, und dann kommt es noch schlimmer.

Szenenwechsel vom Schlachter zum Pastor. Während der Hammel sein Leben läßt, wird in der Kirche das Lamm Christi verkündigt. In sechs Wochen ist Weißer Sonntag, Bobs Tochter Coleen beteiligt sich eifrig am Kommunionsunterricht. Für den Festtag braucht sie ein weißes Kleid, was sich ein Arbeitsloser wie Bob aber nicht leisten kann. Und dann wird auch noch sein Lieferwagen gestohlen, wichtigstes Zubehör für Gelegenheitsjobs...

Mit dem Schaf fängt es an und endet beim Kredithai: „Raining Stones“ erzählt die Geschichte von Bob, seiner Frau Anne und ihrem Versuch, ein Kommunionskleid für Coleen zu finanzieren. Pastor Barry will helfen und empfiehlt die Second-hand-Lösung, aber Bob lehnt ab. Mit Katholizismus hat all das wenig zu tun. Regisseur Ken Loach zur Entstehungsgeschichte: „In weiten Regionen Englands geht's den Leuten sehr schlecht, aber keiner spricht darüber. Wir wollten eine Geschichte erzählen, wie man unter diesen Lebensbedingungen seine Würde bewahrt, wie man harte Zeiten übersteht, ohne daß man sich geschlagen gibt. Bob kann die Stromrechnung nicht bezahlen, aber wenn es ihm gelingt, für seine Tochter ein Kommunionskleid zu kaufen, ist es okay.“

Also reinigt Bob verstopfte Abflußrohre – und landet buchstäblich in der Scheiße. Mit ein paar Kumpels sticht er Rasenplatten aus – im Park des Klubs der Konservativen: weniger ein Diebstahl, als die schwejksche Variante von Enteignung durch die Arbeiterklasse.

Bob verdingt sich als Aufpasser in der Disco – und wird selber verprügelt. Bei Ketchup und Worcestersauce erklärt er Coleen das Mysterium der Heiligen Kommunion und hebt zur Illustration anstelle des Kelches den Teebecher – die Transsubstantiationslehre nach Manchester-Art. Coleen versteht kein Wort. Was Bob auch anfaßt, es mißlingt ihm.

Wir schaffen das schon: Manchmal klingt sein Credo, als müsse er sich selbst bekehren. Das Neubauviertel war mal eine hübsche Gegend, jetzt streunen Fixer auf der Straße.

Die Vision vom anständigen Leben droht längst in einen Alptraum zu münden. „Es muß sich was ändern, alles andere ist Propaganda“, sagt Bobs Schwiegervater, und das klingt nach Loach. Seine Protagonisten waren schon immer ordinary people, die Opfer der Thatcher- und Major-Politik: streikende Bergleute, Gewerkschafter, Hilfsarbeiter auf dem Bau, sogenannte Asoziale, Langzeitarbeitslose.

Der Independent nennt den Filmemacher einen „master of misery“. Ähnlich wie sein Kollege und Freund Mike Leigh macht auch Ken Loach sich keine Illusionen. Aber anders als Leigh in „Naked“ glaubt er nicht an die Apokalypse, sondern an seine Helden. Leigh seziert, Loach legt Notverbände an. Ruhig, aber mit Nachdruck.

Das Schlimmste wäre, wenn sich die Loser auf ihren Opfer-Status zurückziehen würden: Aufgeben gilt nicht. „Raining Stones“ schließt als klassische Heldenlegende mit einem Happy-End, und ist dazu eine Komödie. So vergnüglich gerät Systemkritik selten. In seinem neuesten Film „Ladybird, Ladybird“, der wahren Geschichte einer Mutter, der vom Sozialamt nacheinander sechs Kinder weggenommen werden, vergeht einem das Lachen zwar. Aber selbst diese Story endet mit einem Händedruck: dem Versprechen, niemals zu kapitulieren.

Auf dem nächtlichen Heimweg vom Pub beschimpft der schwerfällige Tommy (hinreißend gespielt von Ricky Tomlinson, dem Bauarbeiter-Helden aus „Riff- Raff“) einen dröhnenden Hubschrauber. Torkelnd droht er Richtung Himmel: „Wir sind keine Ratten, bloß weil wir arbeitslos sind“, streckt dem Gegner seinen nackten Hintern entgegen – und fällt auf die Schnauze. Kein Drama, er wird schon nach Hause finden. Ecce homo unter der Straßenlaterne: ein handfesteres Sinnbild als der Gossenphilosoph Johnny in Mike Leighs „Naked“. Loachs Bergarbeiter-Dokumentation von 1984 hieß „Which side are you on?“. Diesen Titel könnte jeder seiner Filme tragen. Die Fernsehanstalt soll die Dokumentation damals vom vorgesehenen Sendeplatz im Kulturprogramm abgesetzt haben, weil die Programmverantwortlichen sie „zu wenig künstlerisch“ fanden. In der Tat: Seine Filme sind so solide wie ihre Helden. Die Kamera (Barry Ackroyd) bewegt sich kaum, streng nach Loachs Maxime: Stelle sie nie dorthin, wo eine der handelnden Personen stehen könnte. Wichtiger als jede optische Finesse ist die Bewegungsfreiheit der Protagonisten.

Der Realismus des New British Cinema führt bei Regisseuren wie Frears, Loach, Leigh oder dem Iren Jim Sheridan zu verblüffend ähnlichen Ergebnissen. Verschieden sind die Methoden. Während Leigh mit professionellen Schauspielern auf der Grundlage von Improvisationen ein strenges Drehbuch entwickelt, arbeitet Loach gerne mit Laien. Drehbuchautor Jim Allen hat als Hilfsarbeiter an genau der Wohnsiedlung mitgebaut, in der Bobs Familie lebt. Hauptdarsteller Bruce Jones arbeitet als Kesselwart in einer Molkerei, und der Gewerkschafter Ricky Tomlinson hat wegen Widerstand gegen die Obrigkeit zwei Jahre in siebzehn Gefängnissen verbracht. Loach gibt den Darstellern nur den Text für den jeweiligen Drehtag, so wissen sie nicht, wie die Geschichte ausgeht. Dabei geht es Loach nicht um Regie als Geheimwissenschaft, sondern um die Lebensnähe von Dreharbeiten: „Oft ist die erste Reaktion auf etwas Schreckliches auch die authentischste. Es ist besser, der Schauspieler hat diesen Schock beim Drehen als beim Lesen des Scripts. Die unmittelbare Erfahrung läßt sich nachträglich kaum wiederholen.“

Als Bob die Geldsorgen über den Kopf wachsen, kulminiert seine Pechsträhne in einer Prügelei mit tödlichen Folgen. Pater Barry ist zwar bereit, dem schuldbewußten Katholiken die Beichte abzunehmen, aber nicht, die Polizei einzuschalten. Ein Arbeiterpriester wie aus dem Märchen: eine ungewöhnliche Allianz von Kirche und Proletariat. Der Regisseur beteuert, einen solchen Pfarrer persönlich zu kennen. Immerhin haben sie etwas gemeinsam: Pastor Barry zeigt Brot und Wein und glaubt dabei an Leib und Blut. Auch für Ken Loach ist Brot nicht alles, was einer zum Leben braucht. Er kann sich mit der Erniedrigung nicht abfinden, daß jemand sein Brot nicht verdienen darf. Er predigt unermüdlich das Menschenrecht auf Arbeit. Bloß daß es bei ihm statt Wein dann Tee dazu gibt.

„Raining Stones“. Regie: Ken Loach. Buch: Jim Allen. Mit Bruce Jones, Julie Brown, Gemma Phoenix. Großbritannien 1992/93, 91 Minuten.

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