: „Sie wollen angeben und machen Blödsinn“
■ Endstation Klinik: Wenn der Frühling erst einmal da ist, lockt nichts so sehr wie Spritztouren / Viele vergessen, daß Motorräder über keine Knautschzone verfügen
Der Kladower Damm ist eine Straße mit weichen Kurven und viel schnurgerader Strecke. Manchen Motorradfahrer juckt es in den Fingern, seine Maschine richtig auf Touren zu bringen. Gerade auf solchen Straßen sind nach Erfahrung der Polizei 130 Stundenkilometer nichts Ungewöhnliches. Und wenn die Tachonadel im oberen Geschwindigkeitsbereich zu zittern beginnt, übersieht man schnell ein Hinweisschild an der Straße in Richtung Kladow: Klinik Berlin, 1.000 Meter.
Hinter diesem belanglosen Namen verbirgt sich das erste und bisher einzige Rehabilitationszentrum Berlins. Eine mögliche Endstation für eine waghalsige Spritztour mit dem Motorrad. Rund ein Viertel der 230 PatientInnen sind Unfallopfer, sagt Professor Karl- Heinz Mauritz von der Klinik Berlin. Darunter auch ein 25jähriger Autoverkäufer, der mit seinem Motorrad gestürzt ist. „Der Mann ist jetzt halbseitig gelähmt, hat Sprach- und Schluckstörungen und Schwierigkeiten, Gegenstände zu greifen.“ Seit acht Wochen befindet er sich zur Therapie in dem Rehabilitationszentrum.
Mit dem Frühjahr beginnt nach Meinung des Polizeihauptkommissars Lutz Sliwinski, Zugführer einer Motorradstaffel der Berliner Polizei, auch die Unfallsaison bei Motorradfahrern. Gerade wenn man ein halbes Jahr seine Maschine eingemottet hatte, sagt Sliwinski, kommt es bei den ersten Fahrversuchen schnell zu Fehleinschätzungen der persönlichen Fähigkeiten: „Der ungeübte Fahrer verliert schnell die Nerven und damit auch die Kontrolle über seine Maschine.“
Da die meisten Motorradfahrer jünger sind, komme „übertriebene Selbstdarstellung“ als Unfallgrund hinzu: „Sie wollen angeben und stellen dann mit den Maschinen Blödsinn an.“ Doch das Motorrad sei kein Spielzeug. „Man muß immer bedenken, daß es keine Knautschzone hat.“
Über die Schwere eines Unfalls entscheide nicht nur die Geschwindigkeit, „sondern auch der Gegenstand, auf den ein Fahrer prallt“. Einen Sturz mit 150 Stundenkilometern, ohne mit einem Baum oder einem anderen Fahrzeug zu kollidieren, könne man überleben. Aber im letzten Jahr sei beispielsweise ein Motorrad mit nur 50 Stundenkilometern gegen einen Lastwagen geprallt: „Der Fahrer klemmte zwischen Vorderachse und Unterboden des Lkws, der Sozius flog gegen ein parkendes Auto.“ Beide waren sofort tot.
Insbesondere bei Motorradunfällen, so Professor Mauritz, kommt es häufig zu Schädelhirnverletzungen. Nur Reiten übertreffe das Motorradfahren in der potentiellen Unfallgefährdung. Ein Biker muß nach durchschnittlich 7.500 Fahrstunden mit einem Sturz rechnen, ein Reiter schon nach 350 Stunden.
Zu Schädelhirnverletzungen kommt es, wenn der Kopf heftig auf dem Boden aufschlägt. Das Gehirn knallt mit hoher Geschwindigkeit gegen die Schädelinnenwand: „Die Folgen sind Zerstörungen und Zerreißungen am Gehirn.“ Die Opfer leiden danach meist unter Sprachstörungen, Gedächtnis- und Konzentrationsschwächen. Häufig leiden Unfallopfer auch unter Verhaltensveränderungen. „Viele Patienten sind aggressiver als zuvor.“ Unfälle mit diesen Auswirkungen seien meist ein „fataler Einschnitt in das Leben der Patienten und ihrer Familien“.
Im Durchschnitt dauert eine Therapie in der Klinik Berlin drei Monate. Bei schwereren Fällen auch sechs Monate. In dieser Zeit versucht man durch Krankengymnastik, Konzentrations- und Wahrnehmungstraining an Computern und Gesprächsrunden die Patienten auf ein Leben nach dem Unfall vorzubereiten.
Die Erfolgsaussichten sind von Fall zu Fall verschieden, weiß Mauritz aus Erfahrung: „Die meisten Unfallpatienten sind jung. Bei ihnen kann sich über eine lange Zeit eine Verbesserung einstellen.“ Es gebe aber auch Menschen, die allein nicht mehr überlebensfähig seien und in Behinderteneinrichtungen eingewiesen würden. Dem jungen Autoverkäufer, meint der Arzt optimistisch, wird es vielleicht bald wieder so gut gehen, „daß er nach einer Umschulung irgend etwas Einfaches arbeiten kann“. Olaf Bünger
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