Nationaler Irrsinn

■ Auch Juden dürfen ukrainische Nationalisten werden, vorausgesetzt, sie akzeptieren sich selbst als Feinde

„Hoch lebe die Nation“, brüllt ein auf dem Podium stehender, mit einem militärischen Kampfanzug bekleideter Mann. Der ganze Saal des Kiewer Kinos ist voll solcher braungrün gekleideter Gestalten, die schwarzglänzende Militärstiefel tragen und an deren Gürtel goldene Schnallen blitzen. Dreihundert Jugendliche werfen den rechten Arm in die Höhe – fast wie beim Hitlergruß. Nur am Ende ist eine geballte Faust. Wieder dröhnt ein „Heil der Nation“ durch die Bänke des Kinos. Heute ist Sondervorstellung.

Zwischen den Kinosesseln steht der Kameramann einer ukrainischen Fernsehanstalt. Er heißt Jura, kommt aus Kiew und ist gläubiger Jude. Wir unterhalten uns darüber, wie man am billigsten nach Jerusalem kommt. Jura hat nämlich beschlossen, sich zum dortigen Rabbi zu begeben, weil er von ihm eine Genehmigung zur Arbeit am Sabbat braucht – als Kameramann muß er immer einsatzbereit sein. Der Kiewer Rabbi hat ihm die Genehmigung immer wieder verweigert. „Ukrainische Schizophrenie“, kommentiert Jura den Parteitag der paramilitärischen und faschistoiden Gruppierung „Ukrainische Selbstverteidigung“ (Unso). „Unserer Organisation kann jeder beitreten, ohne Rücksicht auf die Nationalität“, versichert mir der Kommandeur der Selbstverteidigung, der dünne und hochgewachsene Dmytro Kortschynski, während er die Reihen seiner Kämpfer abschreitet, „unsere Aufnahmeformulare enthalten keine Rubrik für die Nationalität. In einer seiner Zeitungen, der Zamkova Hora (Der Schloßberg), schrieb er: „Wenn Ihr den Treueeid leistet, legt ihr die Hand auf was immer ihr wollt: das Evangelium, den Koran oder die Tora.“

Aber die Schizophrenie hat auch noch ein anderes Gesicht: „Alle Menschen sind Deine Brüder, aber die Moskalen, Polacken, Ungarn, Rumänen und Juden sind Feinde Deines Volkes. Nimmt Dir keine Ausländerin zur Frau, denn Deine Kinder werden Deine Feinde sein, befreunde Dich nicht mit den Feinden Deines Volkes, denn damit gibst Du ihnen Kraft und Mut“ – so zitiert die Unso-Zeitung Holos Nacji (Stimme des Volkes) einen der Vorkriegstheoretiker des ukrainischen Nationalismus. Dmytro Kortschynski, ein bißchen Poet (er veröffentlicht seine Gedichte in der nationalistischen Presse), ein bißchen Politiker, gründete die Unso in den Tagen des Augustputsches von Moskau 1991. Mit einigen Bekannten aus der Kirchenbrüderschaft des heiligen Andreas rekrutierte er in Kiew Freiwillige für Kampfverbände, die die Ukraine vor den Putschisten schützen sollten. Innerhalb von drei Tagen meldeten sich viertausend Schüler, Studenten und Arbeiter. Eine Woche nach dem Putsch blieben noch immerhin vierhundert dabei. Mit Unterstützung der nationaldemokratischen Opposition begann die Unso mit der Bildung von Abteilungen außerhalb der Hauptstadt. Frühere Offiziere der Sowjetarmee, die sich zur ukrainischen Sache bekehrt hatten, stellten ihnen Waffen und Gerät für Wochenendübungen zur Verfügung. Die Organisation dehnte sich auf 24 von insgesamt 26 Regierungsbezirken aus und hat zur Zeit fünf- bis sechstausend Mitglieder. Die einfache Ideologie und der Hang zur Lyrik ihres Führers haben die Unso schnell populär gemacht.

Noch im ersten Jahr ihres Bestehens kam es zu einer Veränderung der sozialen Struktur: Anstelle der idealistischen Arbeiter und Studenten kamen Arbeitslose und Kriminelle. Interessant ist auch, daß sich frühere ukrainische Afghanistan-Kämpfer von der Unso fernhielten. Die wie geschmiert funktionierende Organisation hatte bald schon ihren ersten Einsatz: Im Sommer 1992 unterstützte die Unso die russischsprachigen Separatisten im Nachbarland Moldova. Erst die Kursänderung der ukrainischen Außenpolitik führte zum Rückzug der Unso aus der Dniester-Republik – Kiew drohte den Kämpfern mit dem Entzug der ukrainischen Staatsbürgerschaft.

Trotz dieses Fehlschlags blieb die Unso das ganze Jahr 1992 über Schild und Schwert des Präsidentenlagers, in dem sie sich in den Kampf innerhalb der auseinanderfallenden orthodoxen Kirche einmischte. Unso-Kämpfer nahmen an Auseinandersetzungen in Rowno und in Wolhynien teil, wobei sie die Gläubigen der ihnen feindlichen Kirchenfraktion verprügelten und so insgesamt vier Kirchen „eroberten“. Die vorläufig letzte bewaffnete Aktion war die Entsendung von Freiwilligen im Sommer 1993 in Richtung Georgien, wo die Unso gegen die abchasischen Separatisten kämpfte. Über ein Dutzend Freiwillige starben im Kaukasus. Im November verabschiedete das Parlament ein gesetzliches Verbot der Bildung und Finanzierung von paramilitärischen Einheiten, die in fremden Ländern eingesetzt werden sollen. Im Dezember fand der Parteitag statt, auf dem die Unso-Führer ihren mutigsten Anhängern Orden überreichten.

Obwohl die Unso an sich antirussisch ist und in Moskau die schlimmsten Feinde der ukrainischen Unabhängigkeit auszumachen pflegt, hat es inzwischen Kontakte zwischen Unso und Schirinowskis Liberaldemokraten gegeben. Ziel: die Bildung eines slawischen Imperiums, denn ebenso wie Schirinowski, so hegt auch Unso- Vordenker Kotschynski panslawistische Sympathien. Im Dezember letzten Jahres trafen sich so in Kiew Vertreter nationalistischer Parteien aus ganz Osteuropa: aus Weißrußland, Rußland, Polen und der Ukraine. Schirinowski wurde Vorsitzender der dabei gegründeten „Slawischen Sammlungsbewegung“. Sein Stellvertreter hieß Boleslaw Tejkowski, der sich zur Zeit in Warschau wegen Volksverhetzung und Aufstachelung zum Rachenhaß bei den Parlamentswahlen vor zwei Jahren verantworten muß. Andrzej Lomanowski, Kiew

Der Autor ist Kiewer Korrespondent der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“.