: Erst die Schwimmbäder, dann die Kinder...
■ Jugendsenator Thomas Krüger (SPD) bläst zur Heimreform. Die "Hilfen zur Erziehung" sollen den Bezirken entzogen und einem zentralen Landesträger unterstellt werden / Jugendstadträte strikt ...
Bevor er im Herbst als Direktkandidat der SPD in den Bundestag in Bonn einzieht, will Jugendsenator Thomas Krüger in Berlin noch einen großen Wurf landen: In den Amtsstuben seiner Verwaltung wird seit geraumer Zeit an einer Neustrukturierung der „Hilfen zur Erziehung für Kinder und Jugendliche“ gefeilt.
Hilfen zur Erziehung sind unter anderem Unterbringung in Heimen, Wohngemeinschaften oder Pflegefamilien sowie die Vermittlung von ambulanten Maßnahmen wie Tagespflege und Psychotherapie. Bislang waren für diese Belange die Jugendämter der Bezirke zuständig. Krüger will den Bezirken nun die Zuständigkeit entziehen und eine Anstalt des öffentlichen Rechts als zentralen Landesträger mit dem Aufgabenfeld betrauen. Das Vorhaben soll dem Senat bereits am 19. April und danach dem Rat der Bürgermeister vorgelegt werden. In den Bezirken regt sich jedoch Widerstand. Der Kreuzberger Jugendstadtrat Helmut Borchhardt (SPD) erklärte der taz, der zentrale Landesträger stoße bei allen Jugendstadträten der 23 Bezirke auf Ablehnung. Damit würde einer „Verbürokratisierung“ der Jugendhilfe Vorschub geleistet, statt auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen einzugehen.
Der Landesträger ist ebenso wie die geplante Privatisierung der öffentlichen Schwimmbäder eine klassische Idee, die aus dem Zwang zum Sparen geboren wurde. In Berlin gibt es siebentausend Heimplätze, im Vergleich zu anderen Bundesländern eine überdurchschnittlich hohe Zahl. Im Haushalt 1993 schlug die gesamte Jugendhilfe mit 600 Millionen Mark zu Buche. Mit 83 Prozent kostete die Heimerziehung mit Abstand den größten Batzen. 9 Prozent wurden dagegen lediglich für die Familienpflege ausgegeben, 5 Prozent für die ambulanten Hilfen und nur 2,3 Prozent für die Jugendwohngemeinschaften freier Träger. Schlüsselt man den Etat der ambulanten Hilfen (58 Millionen Mark 1994) auf, zeigt sich, wie ungerecht die Mittel in der Stadt verteilt werden. 50 Millionen Mark oder 85 Prozent entfallen auf den Westteil. Ostberlin bekommt nur 8 Millionen Mark oder 15 Prozent des Kuchens ab.
Die Heimplätze, darin ist sich Senator Krüger mit vielen Jugendstadträten und Sozialarbeitern an der Basis einig, müssen abgebaut werden. Nicht nur, weil sie ungemein teuer sind, sondern weil die Heimunterbringung nur dann erfolgen sollte, wenn alle anderen pädagogischen Mittel versagt haben.
Die durch die Heimreform eingesparten Gelder, erklärte Krüger gestern gegenüber der taz, sollen einem Ausbau der ambulanten Maßnahmen zugute kommen und zuvörderst in den benachteiligten Osten fließen. Ohne einen zentralen Landesträger werde es nie gelingen, die Heimplätze auf ein Minimum zu reduzieren, ist er sich sicher. Denn die Bezirke hätten in den vergangenen Jahren zur Genüge gezeigt, daß sie dazu nicht in der Lage seien. „Wer in dem Streit die Partei der Bezirke ergreift“, so Krüger, „ergreift Partei für die stärksten Bezirke, die viel mehr Ressourcen für ambulante Maßnahmen haben als die Ostbezirke.“
Der Kreuzberger Jugendstadtrat Borchardt schießt mit scharfer Munition zurück: „Der zentrale Landesträger soll doch nur deshalb aufgebaut werden, um Mitarbeitern der Hauptverwaltungen ein neues Arbeitsfeld zu verschaffen.“ Mit der Jugendhilfe sei es genauso wie bei der Bäderreform. Einerseits sollten die Bezirke durch die Verwaltungsreform mehr Veranwortlichkeit und einen eigenen Etat bekommen. Hintenrum würde dies jedoch sofort wieder zunichte gemacht, indem der Senat immer mehr bezirkliche Einrichtungen zentralisiere.
Die Bezirke forderten schon lange Alternativen zur Heimunterbringung und eine Stärkung der Familienpflege und betreuter Wohngemeinschaften. „In der Vergangenheit“, so Borchardt, „wurden diese Vorschläge jedoch immer vom Finanzsenator und in dessen Folge vom Jugendsenator abgelehnt.“
Die Behauptung von Jugendsenator Thomas Krüger, das eingesparte Geld solle dem Osten zugute kommen, hält er, Borchardt, für ein Ammenmärchen: „Die Summe behält der Senat einfach ein.“ Plutonia Plarre
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