■ Bücher.klein: Telefonitis
In Paris sammelte sich die vornehme Gesellschaft seit 1881 öfter vor einem Telefon, um einer gerade stattfindenden Opernaufführung zu lauschen. Auch in Budapest hatten die in den sechziger Jahren erfundenen Apparate zunächst die Funktion eines Radios. Ein Sprecher las ununterbrochen die neuesten Nachrichten vor, und wer anrief, konnte sich auf diese Weise informieren. In der Gegenwart erfährt das Telefon wieder einen enormen Funktionswandel. Immer enger werden Computer, Fernsehbildschirm und Telefon zu sogenannten Informationshighways miteinander verbunden.
Die von Jörg Becker herausgegebene Aufsatzsammlung „Fern-Sprechen. Internationale Fernsprechgeschichte, -soziologie und -politik“ versammelt Texte von Autoren aus 14 Ländern; neben Europa und Nordamerika kommen sie aus Georgien, China, Indien und Brasilien. Stilistisch und thematisch ist das Buch ein Mosaik geworden – durchaus unterhaltsam und informativ. Denn das Telefon ist nicht nur als ein sich technisch veränderndes Kommunikationssystem interessant. Es formt gesellschaftliche Umgangsformen und war stets ein machtpolitischer Faktor, den die Herrschenden entweder fördern oder unterbinden und fast immer kontrollieren wollten. – Die Aufsätze sind in fünf große Themenblöcke aufgeteilt: Technikgenese; Verzicht, Verbot und Widerstand; Dritte Welt; Deregulierung und Regulierung sowie Gegenwarts- und Zukunftstendenzen. Nur locker oder gar nicht miteinander verbunden, widmen sie sich einer Vielfalt von Fragestellungen: Was steht hinter dem Streit, wer der eigentliche Erfinder des Fernsprechers ist? Wie offen waren Jules Verne und Karl May für die neue Technik? Ist ein Anrufbeantworter demokratisch, weil jede/r abwimmeln kann und nicht die Vorzimmerdame braucht? Wer hat in Brasilien vom Aufbau des Telefonnetzes profitiert? Und wie schafften es die niederländischen WiderstandskämpferInnen über Jahre, das Telefonnetz hinter dem Rücken der Nazis aufrechtzuerhalten?
Etwas unbefriedigend fällt der Teil über die Zukunft aus. Zwar ist anzunehmen, daß die zur Zeit in den USA geführte Debatte über die Möglichkeit, den Anrufer schon vor dem Abheben zu identifizieren, demnächst auch nach Europa überschwappt. Eine Antwort aber, mit welchen technischen, sozialen und politischen Entwicklungen zu rechnen ist, bleibt das Buch schuldig. Nicht ohne Begründung allerdings: Der letzte Aufsatz zeigt das permanente Versagen der Prognostiker auf. Insofern ist der Verzicht auf umfassende Vorhersagen nur konsequent. aje
Jörg Becker (Hrsg.): „Fern- Sprechen. Internationale Fernsprechgeschichte, -soziologie und -politik“. Vistas Verlag, Berlin, Februar 1994, 471 Seiten, 98 DM
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