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Die neue Welt macht die Grenzen dicht

■ 80.000 Deutsche machen sich jedes Jahr auf den Weg, um im Ausland ihr Glück zu versuchen. Die meisten Auswanderer schaffen es nicht bis nach Übersee, sondern bleiben in Europa. Green Cards und Visa...

Die neue Welt macht die Grenzen dicht

Zur Schafschur ins australische Outback, Zeit spielt keine Rolle, Raum schon gar nicht. Oder, wahlweise: Big Apple statt Großziethen. Den Traum vom Auswandern haben die Deutschen schon immer dann kollektiv geträumt, wenn ihre Ökonomie in der Krise steckte. 760.000 deutsche „Wirtschaftsflüchtlinge“ haben sich in den fünfziger Jahren vor dem Wiederaufbau gedrückt und in die Vereinigten Staaten, nach Kanada oder Australien verabschiedet. Nach der Wiedervereinigung entflohen 1991 knapp 600.000 dem wirtschaftlichen Abschwung in der Bundesrepublik.

Doch der Eindruck einer neuen Massenflucht relativiert sich bei genauerem Hinsehen schnell: Ein Blick in die Wanderungszahlen des Statistischen Bundesamtes zeigt, daß ein Großteil dieser 600.000 Emigranten Ausländer waren, die die Bundesrepublik freiwillig oder wegen Abschiebung und teilweise nach kurzem Aufenthalt wieder verlassen haben. Nur knapp 85.000 deutsche Staatsbürger haben sich 1991 davongemacht. Und nur etwa die Hälfte von ihnen hat Europa verlassen, um in Übersee ihr Glück zu versuchen. 3.500 haben sich nach Afrika aufgemacht, gut 4.000 nach Asien. Etwa 1.600 sind in Australien und Ozeanien gelandet, fast 18.000 in Amerika inklusive den USA, die rund 12.500 „Krauts“ aufgenommen haben. Weitere 15.000 sind unbekannt verzogen.

Aber auch jenseits der Statistik hat der Emigrant der 90er mit dem klassischen Auswanderer von einst nicht mehr viel gemein. „Heute steht keiner mehr mit Hab und Gut am Kai in Bremerhaven, um die Heimat für immer hinter sich zu lassen“, sagt Werner Eich vom Bundesverwaltungsamt in Köln. Seine Behörde hat 1959 die Aufgaben des damaligen Bundesamtes für Auswanderung übernommen und sponsert unter anderem die rund siebzig Beratungsstellen für Auslandtätige und Auswanderer in der Bundesrepublik. Der Trend, so Eich, gehe zur Flucht auf Zeit und mit offener Hintertür. Viele wollten für einige Jahre im Ausland arbeiten, danach aber zurückkehren. Auch Georg Mehnert von der Berliner Auswanderer-Beratungsstelle des Raphaels-Werks bescheinigt seinen Klienten zunehmend Vorsicht und Bescheidenheit beim Pläneschmieden.

Wer trotzdem in den Wolken schwebt, landet spätestens im Zuge der umfangreichen Vorbereitungen wieder auf dem Boden. Englischkurse, Kontakte mit der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung (ZAV), dem Austauschdienst DAAD und diversen Stiftungen, Schriftwechsel mit möglichen Arbeitgebern, Infojagd im Amerikahaus – ihr Wunsch, in die USA auszuwandern, hält Marianne P. (Name geändert) schon seit Monaten auf Trab, obwohl sie die höchste Hürde, den Antrag auf die „Green Card“, die notwendige Einwanderungs- und Arbeitserlaubnis, noch nicht einmal angepeilt hat. Die 33jährige Journalistin will für ein paar Jahre in die USA, am liebsten nach New York, um dort die Zeit des Umbruchs und Rechtsrucks in der Bundesrepublik zu überdauern. „Ich bin lieber fremd im Ausland als im eigenen Land“, sagt die Ostberlinerin. Seit der Vereinigung ist sie mit kurzen Unterbrechungen arbeitslos. Die USA sind für sie die ultimative Herausforderung, eine Art Crashkurs in Ellenbogenmentalität. „Wenn ich es da packe, komme ich auch hier weiter“, hofft Marianne P. für die Zeit nach ihrer Rückkehr.

Die Gründe für das Fernweh sind vielfältig. Die grassierende Arbeitslosigkeit läßt viele auf ein lohnenderes Leben anderswo hoffen. Doch Werner Eich vom Bundesverwaltungsamt warnt vor Illusionen. „Andere Länder nehmen längst nicht jeden, der hier Probleme hat.“ Meist haben gerade die Berufsgruppen Chancen, die auch in der Bundesrepublik gefragt sind.

Zu Eugenia Gilge von der Auswanderer-Beratung des DRK in Potsdam kommen zunehmend junge Leute, die die Sehnsucht nach Veränderung und Freiheit treibt. Frau Gilges skurrilster Fall: Zweimal hat sie einem jungen Mann in kompletter Western- Montur mit Hut und Cowboy-Stiefeln zur Beratung gegenübergesessen. Er wollte unbedingt nach Kanada ausreisen. Gerade von dort zurückgekehrt war ein anderer Klient. Der Mittsechziger hatte dreißig Jahre lang als Uhrmacher in Australien und Kanada gearbeitet und wollte nun wieder in Brandenburg leben. Hier stand er den Problemen mit Wohnungssuche, Rente und Einsamkeit hilflos gegenüber. „Ein trauriger Fall“, erinnert sich Eugenia Gilge.

Doch vor der möglichen Rückkehr steht das Problem, überhaupt ein Einreisevisum zu ergattern. Und das ist, besonders was die klassischen Einwanderungsländer angeht, ein Kunststück, weiß der Berliner Berater Georg Mehnert. In die USA komme praktisch nur noch, wer einen Verwandten – möglichst ersten Grades – oder einen US-amerikanischen Ehepartner vorweisen kann. Dabei ist das Land mit 750.000 Einwanderungsvisa pro Jahr rein rechnerisch noch das großzügigste Gastland. Die Kanadier nehmen etwa 250.000 Einwanderer im Jahr auf, Australien rund 70.000.

Ans andere Ende der Welt will das Ehepaar Karin und Erik M. (Namen geändert) lieber heute als morgen. Die beiden wollen „raus aus Deutschland“, in die „relativ intakte Natur“, möglichst in eine westaustralische Stadt. „Deutschland ist zu voll und zugebaut“, sagt Karin M., „hier Kinder großzuziehen ist doch Quälerei.“ Die kaufmännische Angestellte und der Handwerker waren bereits dreimal besuchsweise down under, haben in Australien geheiratet und den ersten gescheiterten Antrag auf ein Einreisevisum bereits hinter sich.

Die Begründung für die Ablehnung: Der Hauptantragsteller Erik M. hatte damals – wegen der Australien-Reisen – in den vorangegangenen drei Jahren keine ununterbrochene Berufserfahrung vorzuweisen. Und das ist neben der Ausbildung, den Sprachkenntnissen und einem möglichst geringen Alter für die Australier das entscheidende Kriterium. Jetzt will das Ehepaar einen zweiten Antrag stellen. Und zwar im Sommer, wenn die drei Jahre Berufstätigkeit wieder voll sind und Erik M. noch vor dem 35. Geburtstag steht. Denn mit dem rutscht er in eine ungünstigere Altersgruppe. Nach dem ersten arglosen Versuch wird dieser zweite Antrag Maßarbeit sein. Und das Paar ist zuversichtlich: „Diesmal können wir es schaffen.“

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