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Die Stadt, der Müll und die Wahl

In der Türkei wachsen Zweifel am Wahlerfolg der Islamisten / „Wir suchen unsere Stimmen“  ■ Aus Istanbul Nükte Devrim

Die Halkali-Mülldeponie in der türkischen Metropole Istanbul ist eine Woche nach den türkischen Kommunalwahlen eine Art alternatives Hauptquartier der politischen Parteien geworden. Funktionäre aller Schattierungen suchen verzweifelt nach Stimmzetteln mit Kreuzchen ihrer Gruppierungen drauf. Nur die islamistische Wohlfahrtspartei (RP) ist nicht vertreten. Sie ist noch immer damit beschäftigt, ihren großen Sieg in Istanbul und 27 weiteren türkischen Städten zu feiern.

Daß an den unmöglichsten Orten in Istanbul immer mehr der eigentlich vertraulichen Wahlzettel auftauchen, regt die Wähler immer mehr auf. Nicht nur auf Müllkippen werden sie gefunden, sondern auch in den Kellern von Schulen und Fabriken. Manche sind halb verbrannt, andere stecken noch in ihren ungeöffneten Umschlägen. Önay Alpago Said, Vizepräsident der Sozialdemokratischen Volkspartei (SHP), schimpft über „Wahlzid“, was auf türkisch wie „Genozid“ klingt.

Die SHP, die in der Hauptstadt Ankara mit nur 0,7 Prozent gegen die RP verlor, verlangt inzwischen eine Annullierung der Wahl im ganzen Land und organisiert Protestmärsche mit der Parole „Wir suchen unsere Stimmen“. Gesucht wird dabei auch nach dem wahren Grund für die Wahlschlappe der traditionellen Parteien und den Wahlsieg der Islamisten vor allem in Ankara und Istanbul. Keine türkische Wahl seit 1946 ist unter solch merkwürdigen Umständen abgelaufen wie diese. Ist es Zufall, daß auf keinem der weggeworfenen Stimmzettel für die Islamisten gestimmt wurde? Im Ümraniye- Bezirk von Istanbul, wo die RP siegte, ging ein Wahlbeobachter der Islamisten routinemäßig in die Wahlkabinen hinein, sagt die Leiterin eines Wahllokals.

Im Beyoglu-Bezirk von Istanbul, wo die meisten Nachtklubs und Kinos der Stadt liegen und auch ein Islamist gesiegt hat, breitet sich derweil Zynismus aus. Kneipengänger witzeln, daß sie jetzt ihr letztes Glas trinken; Geschäftsleute haben eine Faxkette eingerichtet, auf der sie die Zentrumsparteien dafür kritisieren, daß sie sich nicht gegen die RP zusammengeschlossen haben.

„Die Türkei wird niemals wie Algerien“

Sorge bereiten einige unerfreuliche Zwischenfälle. Ein Linienbus im Zentrum Istanbuls wurde von vier Islamisten in traditioneller Kleidung gestoppt, die Frauen mußten aussteigen. Andere Islamisten belästigten westlich gekleidete Frauen auf der Straße. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Während die RP dementierte, daß die Fanatiker zu ihrer Partei gehörten, und von „Provokation“ sprach, erklärte der Gouverneur von Istanbul, Hayri Kozalcioglu, Sicherheit in der Stadt sei seine Angelegenheit allein. Radikale Laizisten verbreiteten eine Liste „islamistischer“ Geschäfte, die zu boykottieren seien, und demonstrierten unter der Parole „Islamisten nach Iran – die Türkei wird niemals wie Algerien“.

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