: Blockade gegen Bundeswehreinberufung
■ 1.400 Berliner Männer mußten gestern in die Kasernen / Gleise wurden besetzt
Michael D. halfen alle Proteste nichts. Zweimal lehnte das Berliner Kreiswehrersatzamt die Anträge auf „Unabkömmlichkeit“ seines Arbeitgebers, der Oberfinanzdirektion, ab.
Obwohl mitten in der Ausbildung zum Steuerinspektor und verheiratet, mußte der „Beamte auf Widerruf“ gestern um Punkt 18 Uhr in der Bundeswehrkaserne im schleswig-holsteinischen Heide antreten. Seine letzten Stunden als Zivilist verbrachte D. am Vormittag auf dem Alexanderplatz, wo er an einer Protestveranstaltung der „Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär“ teilnahm.
Zusammen mit dem 24jährigen mußten gestern rund 1.400 wehrpflichtige Berlinern zur Grundausbildung der Bundeswehr. Am Beispiel von D. werde deutlich, wie man „sinnlos Steuergelder verpulvert“, empörte sich gestern der Sprecher der „Kampagne“, Christian Herz. Rund 12.000 Berliner des Jahrgangs 69 und weitere 23.000 der Jahrgänge 70 und 71 seien nacherfaßt worden und müßten, trotz gegenteiliger Zusagen der Behörden, nunmehr mit ihrer Einberufung rechnen. Darunter seien auch viele Ostberliner, die von der „Nationalen Volksarmee“ der DDR nicht gezogen wurden. „Viele sind jedoch mittlerweile im Studium oder in der Ausbildung“, so Herz.
Wie in jedem Jahr seit der Vereinigung 1990, als der Sonderstatus beendet wurde und seitdem auch die Westberliner zur Bundeswehr gezogen werden können, versuchten gestern zwischen 100 und 200 Aktivisten der Kampagne, die Abfahrt von sogenannten Rekrutenzügen zu verhindern. Am Alexanderplatz, der Friedrichstraße und am Hauptbahnhof waren schon am frühen Morgen vorsorglich starke Kräfte des Bundesgrenzschutzes (BGS) zusammengezogen worden. Dennoch gelang es rund 60 Aktivisten in Bernau und einem Dutzend weiterer im Potsdamer Ortsteil Drewitz, die BGS- Einheiten zu foppen und für kurze Zeit die Bahngleise zu blockieren. Die Aktionen verliefen nach Angaben des BGS in beiden Fällen friedlich. Beim Erscheinen der Beamten räumten die Demonstranten freiwillig die Gleise.
Auch die FDP-Nachwuchsorganisation „Junge Liberale“ verteilte gestern Flugblätter vor einer Kaserne in Kladow. Man sei nicht gegen die Bundeswehr, wohl aber gegen die Verletzung von Grundrechten, erklärte der Landesvorsitzende Bernd Kämpfer. Aus „Gründen des Vertrauensschutzes“ lehne man die Einberufung der Jahrgänge 69 und 70 ab. Es sei gerade für die Berliner „völlig unverständlich, wozu sie jetzt auf einmal in der geschmolzenen Bundeswehr überhaupt gebraucht werden sollen“.
Der Auszubildende Michael D. hatte gestern weitaus profanere Sorgen. Weil er keine Waffe in die Hand nehmen wolle und bereits einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt habe, sei er gespannt darauf, wie man im Ausbildungsort Heide „mit mir umgehen wird“. Severin Weiland
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