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Reisende Ossis im 18.Jahrhundert?

■ Eine nicht ganz unzeitgemäße Sammlung von Reiseberichten deutscher Englandbesucher im Zeitalter der Aufklärung

Sie erlebten das Ziel ihrer Reise mit einer Mischung aus Bewunderung und defensiver, zuweilen auch provinzieller Skepsis: Sie lobten eine Bürgerfreiheit, die nicht an Privilegien gebunden war, eine Presse, die kritisch mit den Herrschenden umging, gut ausgebaute Verkehrswege und Städte, in denen es keine Stadtmauern mehr gab. Sie wurden mit dem public spirit, mit Öffentlichkeit und Urbanität konfrontiert, aber auch mit einer allgemeinen Kommerzialisierung des Lebens („Der esprit de commerce beherrscht den großen Lord, und der Krämer kuckt aus dem General“). Sie beobachteten Kriminalität und Prostitution auf der Straße, und manch einer von ihnen rümpfte über das, was er sah, ein wenig spießig die Nase: „Das Frauenzimmer, geringes und niedriges, hat seine ärgerlich großen Brüste ganz bloß.“

Ossis zu Besuch im ehemals kapitalistischen Ausland? Weit gefehlt! Die von Michael Maurer herausgegebene und vorzüglich eingeleitete Sammlung von Reiseberichten gibt uns die papiergewordenen Eindrücke deutscher Englandreisender des 18.Jh. Unter ihnen nicht nur bekannte Autoren wie Karl Philipp Moritz, Georg Christoph Lichtenberg und Georg Forster, sondern auch Ärzte, Beamte, Pfarrer und Adlige wie Johann Friedrich Grimm oder Georg Wilhelm Alberti, die das im Zeitalter der Aufklärung gesellschaftlich und politisch entwickeltste Land Europas besuchten. Sie kamen aus dem kleinstaatlichen, absolutistischen Deutschland, und ihre Berichte konzentrierten sich auf London, damals größte Stadt der Welt. Die Deutschen kamen erfahrungshungrig, notierten, aber akzeptierten nicht alles. Ein Eindruck überlagert alles andere: die Erfahrung politischer Freiheit. So schrieb der Publizist Johann Wilhelm von Archenholtz 1785: „Es ist eine ausgemachte Wahrheit, daß kein aufgeklärtes Volk je so frei war, als es die heutigen Engländer sind.“ London war das absolute Kontrastprogramm zum heimischen Krähwinkel, und es versetzte dem deutschen Besucher einen gesellschaftlichen Modernitätsschock, noch bevor die Französische Revolution sein politisches Weltbild endgültig in Bewegung brachte. Maurers Sammlung ist jedoch mehr als ein anschauliches Stück sozialgeschichtlicher Rezeption: Sie führt uns auch einen clash historischer, kultureller und politischer Mentalitäten vor, wie er in Mitteleuropa jeden Tag vor unseren Augen abläuft. Robert Zimmer

Michael Maurer (Hrsg.): „O Britannien, von deiner Freiheit einen Hut voll. Deutsche Reiseberichte des 18. Jahrhunderts“. Beck-Verlag, München 1992, 576 S., 48 DM.

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