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Sowjet-Nostalgie in der Ukraine

Wahlerfolg der Kommunisten und Nationalisten / Die regional stark unterschiedlichen Ergebnisse lassen einen Zerfall befürchten und bescheren Präsident Krawtschuk Kopfschmerzen  ■ Von Klaus-Helge Donath

Kiew/Moskau (taz) – Leonid Makarowitsch Krawtschuk, amtierender Präsident der Ukraine, hat seine Vitrinen im Nationalmuseum schon bezogen. Jackett und Brille, die er zur Vereidigung auf die Verfassung des neuen Staates trug, hängen hinter Glas. So unverwechselbar, als stünde er selbst da. Auch sein abgelaufener Mitgliedsausweis der KPdSU liegt da, neben dem Passierschein Nummer 39 für das Parlament. Kurzum – er verkörpert den unbeugsamen ukrainischen Selbständigkeitswillen.

Der Ausgang der Parlamentswahlen in Kiew kann Leonid Krawtschuk daher nicht willkommen sein. Nach dem zweiten Wahlgang von Sonntag können Kommunisten mit voraussichtlich einem Viertel bis einem Drittel der 450 Parlamentssitze rechnen und damit die stärkste Fraktion werden, gefolgt von der nationaldemokratischen Opposition „Ruch“. Die Mehrheit der gewählten Volksvertreter stellen allerdings sogenannte „unabhängige“ Kandidaten, die ihren politischen Gusto noch nicht preisgegeben haben. Eine der stärksten Fraktionen innerhalb der „Unabhängigen“ dürfte dennoch der „Überregionale Block“ Leonid Kutschmas geworden sein. Der im Zorn von Krawtschuk geschiedene ehemalige Premier erhielt schon in der ersten Runde in seinem Wahlkreis 90 Prozent. Kutschma ist nach Umfragen der populärste Politiker der Ukraine und damit gefährlichster Herausforderer Krawtschuks der für Juni anvisierten Präsidentschaftswahlen. Er beklagt das Ende der sowjetischen Strukturpolitik und vertritt eine engere wirtschaftliche Kooperation mit den GUS-Staaten und Rußland.

Besonderen Zuspruch erhielt Kutschma im Osten der Ukraine, wo der Großteil der insgesamt elf Millionen Russen der Ukraine leben. Sein „überregionaler Block“ fordert keine Loslösung der Ostukraine von Kiew – jedenfalls nicht offen. Er befürwortet dagegen eine „Föderalisierung“ des Landes mit Russisch als zweiter Amtssprache. Der hochindustrialisierte Osten beklagte sich seit langem, trotz erheblichen Steueraufkommens immer wieder in Kiew um Gelder betteln zu müssen. So zeigen die Wahlen deutlich den inneren Gegensatz der Ukraine: der Westen entsandte die meisten Abgeordneten der nationaldemokratischen „Ruch“ und drei Ultranationale ins Parlament; Osten und Süden gaben Kommunisten oder zumindest rußlandfreundlichen Kräften den Vorrang.

Schon nach dem ersten Wahlgang hatte Präsident Krawtschuk seine Strategie korrigieren müssen. Er hatte gehofft, die Wähler würden zu Hause bleiben und die Wahl damit ungültig machen. Statt dessen beteiligten sich 75 Prozent an der ersten und an der zweiten Runde noch 66 Prozent der Wähler. Für den Fall ungültiger Wahlen hatte Krawtschuk angekündigt, eine Präsidialherrschaft zu verhängen. Selbstverständlich verschöben sich damit auch die Präsidentenwahlen. Nun forderte Krawtschuk das neugewählte Parlament auf, erst einmal Gesetze zu erlassen, die das Verhältnis zwischen Regierung, Parlament und Präsident klar ordnen. Sonst werde er nicht zur Wahl antreten. Gemeint war wohl, Wahlen finden unter den gegebenen Umständen nicht statt. Den ins Parlament einrückenden Kommunisten warf der mit allen Wassern gewaschene ehemalige Erste Genosse vor, sie mögen doch aufhören, ein Ende der Reformen zu verlangen: „Wie ist es möglich, die Privatisierung aufzugeben? Das hieße sozialistische Revolution und könnte zur Konfrontation führen.“

Die Dinge stehen ein wenig anders. Krawtschuk und seine Regierung haben schließlich selber maßgebliche Reformen verschleppt. Im Consulting-Institut für marktwirtschaftliche Reformen in Kiew sprechen Experten dem Präsidenten und seiner Mannschaft die Fähigkeiten ab, Reformen implementieren zu können oder es überhaupt zu wollen. Korruption greift um sich, die Umwandlung in einen korporatistischen Staat ist im Gange. Mittlerweile liegt das Durchschnittseinkommen um das Zehnfache unter dem des russischen Nachbarn.

Fast täglich läuft der militärische Nachwuchs der Ukraine in Hundertschaften nach Rußland über. Die Armee sollte einst Garant gegenüber dem übermächtigen Bruder sein. Nun wirft gerade sie ihre Schatten voraus. Der Streit um die Schwarzmeerflotte dokumentiert es immer wieder aufs neue. Soeben wurde ein Schiff aus dem ukrainischen Hafen Odessa in den Flottenstützpunkt Sewastopol entführt, ukrainische Soldaten in Odessa haben mehrere Schiffe und Waffendepots der Schwazmeerflotte besetzt und drei russische Offiziere gefangengenommen. Nicht nationale, sondern materielle Motive sind für solche Vorfälle meist ausschlaggebend.

Noch befürworten an die 60 Prozent der Ukrainer die Eigenstaatlichkeit. Doch 70 Prozent plädieren für eine gleichberechtigte Vollmitgliedschaft in der GUS, die der taktischen Distanz Krawtschuks zu Moskau entgegenläuft. Der Geist der Selbständigkeit, so will es scheinen, kriecht langsam in die Flasche zurück.

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