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Süß und hart eben

■ Heute beginnt in Berlin „Technographica '94“: Nur ein blöder Name oder doch die erste Messe für Jugendkultur?

Gerne würde man ja allen Seiten glauben, die sich mit dem Thema beschäftigen: Ob Techno noch im Trend liegt, oder doch mehr Leichen produziert – und daß die Musik nicht mit dem Computer kam, sondern von Herzen. So etwas hatte der Clubmacher Ralf Regitz wohl gemeint, als er der „Unity in der Familie“ zuliebe „Chromapark“ als zweiwöchige Party- und Environment-Show im Berliner E-Werk eingerichtet hatte. Zwei Dauer-Technowochen – da hat der Größenwahn wieder einmal der Hauptstadt die Bewegung vorspielen wollen. Das aber sind die Probleme mit dem Underground: Von Ausverkauf ist die Rede, von WestBam, als dessen Lebenswerk der May- zum Payday wurde, und von Marusha, der Partyzonistin, die auf ORB öffentlich- rechtlich netzwerkt. Sind die Images verbraucht? Zumindest tut Technotanzen nicht mehr weh. Die Feten im stillgelegten Kraftwerk nahe Potsdamer Platz waren sanft und freundlich gewesen: Zum Abschluß mit DJ Laurent Garnier am vergangenen Samstag waren bei „Planet Sex“ eigentlich alle in den Rhythmus auf und über der Tanzfläche gekommen.

Plötzlich fanden sich auch E- und U-Kulturen verbunden: Als kritische Alternative zum elektronischen Grundbrummen gab es für Nichttänzer einen klassischen 70er-Jahre-Büchertisch. Mit einer finnischen Phänomenologie des Dancefloor und zum großen Teil recht beatnikhaften Abhandlungen darüber, daß User wie unsereiner öfter mal zwischen Rimbaud, Rambo und Roland Barthes flottieren sollten – süß, hart und irgendwie Achtziger eben: „Im Grunde genommen kein Widerspruch. Es ist doch ganz gut, wenn die Leute sich Kunst reinziehen können und dabei noch etc.“, so eine Videoanimationsgruppe aus München im Hauptmenue. File under kritischer Laufwerkfehler, return und ab dafür. Auf diese Weise fröhlichst aufgeklärt konnte mit ganz weit Fortgeschrittenen noch per Mail-Box das übliche „Hallo Gott, hier spricht Anna“ kommuniziert werden.

Denn Tanzen ist nur noch das halbe Pflichtprogramm für Raver. Vor allem will man sich mitteilen, ob nun in Daten, Zahlen oder Tanzfiguren. An diesem Wochenende startet in Berlins Akademie der Künste/Ost am Pariser Platz – wiederum Aug in Aug mit dem Brandenburger Tor – die senatsgeförderte Technographica '94, eine Verbindung aus Disco, Computergrafiken und Do-it-yourself-Cyberspace. Da werden gleich drei Fliegen mit einer Maus geklickt: Techno kommt als „neue Ästhetik und Kreativität“ auf den Kulturfahrplan, Verkehrsverein und Bürgermeister können sich mit Sponsoren wie Philip Morris oder Prinz gemeinsame Zielgruppen sichern, und die Kids dürfen an einem offiziellen LSD-Abend unter der Schirmherrschaft von Walter Jens zeigen, was sie auf der Konsole haben. Und in einer interaktiven Computerinstallation des Organisators Christian Kolbe kann man kritisch intelligent durchs Datenmeer fliegen. hf

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