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Grausame Stockhiebe und schmerzfreie Giftspritze

■ Weil ein US-Bürger in Singapur randaliert hat, droht ihm die Prügelstrafe

Washington (taz) – Die Botschaft Singapurs in Washington gerät eher selten in den Blickpunkt der US-amerikanischen Öffentlichkeit. Doch seit einigen Wochen klingelt das Telefon am laufenden Band, der Posteingang hat sich vervielfacht, und die MitarbeiterInnen haben plötzlich alle Hände voll zu tun, aus der US-Presse Artikel über ihr Heimatland auszuschneiden.

Der Grund: Ein Gericht hatte vor wenigen Monaten den 18jährigen Michael Fay, gebürtiger US- Amerikaner aus dem Bundesstaat Ohio, wegen Vandalismus abgeurteilt. Fay, der mit seiner Mutter und seinem Stiefvater in Singapur lebt, soll zusammen mit acht anderen Jugendlichen Autos besprüht und Verkehrsschilder umgerissen haben. Der Richter verhängte eine drakonische Strafe: vier Monate Gefängnis, 2.215 Dollar Geldstrafe – und sechs Stockhiebe. Letzteres ist laut internationalem Recht als „grausame und erniedrigende Bestrafung“ geächtet. Das Opfer wird nackt an Händen und Füßen festgebunden; lediglich Nieren und Geschlechtsteile werden geschützt. Ein professioneller Kampfsportler führt die Schläge mit einem Rattanrohr aus. Bereits beim ersten Hieb platzt erfahrungsgemäß die Haut, das Opfer gerät aufgrund der Schmerzen häufig in einen Schockzustand. Ein Arzt wohnt der Prozedur bei, um sicherzustellen, daß der Verurteilte nicht in Ohnmacht fällt. Physische und psychische Narben bleiben bis an das Lebensende.

US-Präsident Bill Clinton hat das Urteil als „exzessiv“ bezeichnet und den Präsidenten Singapurs, Ong Teng Cheong, um Gnade gebeten. Doch dort zeigt man sich bislang ungerührt. Man wolle, so erklärte ein Sprecher des Innenministeriums, in Singapur nicht Zustände „wie in New York“ zulassen, wo nicht einmal Polizeifahrzeuge vor Unruhestiftern sicher seien.

Wer nun glaubt, die singapurische Botschaft sei mit einer Welle der Empörung von US-BürgerInnen konfrontiert, täuscht sich. Viele, wenn nicht die Mehrheit, finden sechs Stockhiebe als Strafe für das Besprühen eines Autos angemessen – und teilen der Botschaft ihr Verständnis und ihren Beifall mit. 53 Prozent der US- AmerikanerInnen, so die jüngste Meinungsumfrage des „National Polling Network“, halten körperliche Strafen auch im eigenen Land für angebracht. ZeitungskommentatoInnen hingegen reagieren ratlos bis empört auf die Strafpraxis Singapurs und auf die Hau-drauf- Mentalität ihrer Landsleute. William Safire, Kolumnist der New York Times, schlug einen Reiseboykott und Wirtschaftssanktionen vor; in der Washington Post beklagte sein Kollege Richard Cohen, viele AmerikaneInnen seien aus Angst vor Kriminalität mittlerweile bereit, barbarische Methoden zu akzeptieren.

Nun sind solche Law-and-order-Eruptionen keineswegs spezifisch US-amerikanisch. Erinnert sei hier nur an die Debatten zur Wiedereinführung der Todesstrafe in England oder in der alten Bundesrepublik. Erstaunlich an der Reaktion im Fall Fay ist vielmehr, daß sich derzeit in den USA kaum Widerspruch rührt, wenn andere Länder die US-Gesellschaft als gescheitertes oder zumindest nicht nachahmenswertes Modell zeichnen, in dem Vandalismus noch eines der geringsten Probleme sei. Dieser Clash der Kulturen spielt vor allem in den amerikanisch-asiatischen Beziehungen eine große Rolle. Wenn US-Politiker in China die Einhaltung der Menschenrechte einklagen, weisen chinesische Politiker gerne auf den Einsatz der Nationalgarde und der US-Marines in Los Angeles im Mai 1992 hin. Das ist vor dem Hintergrund des Massakers der chinesischen Armee am Platz des Himmlischen Friedens zwar ein Ausdruck exorbitanter Heuchelei – aber es trifft in den USA einen wunden Punkt. Weitaus größere Wellen schlägt in den USA jedoch die Kritik japanischer Medien an der Befindlichkeit der amerikanischen Gesellschaft. „Noch ein Alptraum in der Revolvergesellschaft“, lautete eine von vielen Schlagzeilen in japanischen Zeitungen, als im März erneut zwei japanische Austauschschüler in Los Angeles bei einem Raubüberfall ermordet worden waren. Ein bleicher und sichtlich erschütterter Walter Mondale, US-Botschafter in Tokio, trat am nächsten Tag vor die TV-Kameras – und bat die Japaner im Namen des Präsidenten und des amerikanischen Volkes um Verzeihung. Auf die Frage eines Journalisten, was japanische TouristInnen in den USA zu ihrem Schutz unternehmen sollten, antwortete Mondale, der beste Schutz sei gewährt, wenn die AmerikanerInnen das Problem der Gewaltkriminalität unter Kontrolle bekämen. Just zu diesem Zweck soll nun erneut die Anwendung der Todesstrafe ausgeweitet werden – eine Praxis, gegen die Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international ebenso protestieren wie gegen staatlich sanktionierte Stockhiebe oder Auspeitschen. New York Times-Kolumnist William Safire sieht darin keinen Widerspruch zu seinem eloquenten Protest gegen die Prügelstrafe in Singapur. Kein Staat, so Safire, habe das Recht, einem Menschen physischen Schmerz zuzufügen. Doch für die Todesstrafe in den USA gelte dieser Grundsatz nicht: Diese Form der „vergeltenden Gerechtigkeit“ sei seit Einführung der tödlichen Injektion „schmerzfrei“. Andrea Böhm

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