: Jawohl, die Hölle ist komisch!
Adel durch Phantomschmerz: Noch ein Roman des wunderbaren, unterschätzten Jean-Luc Benoziglio ■ Von Elke Schmitter
Möglicherweise fällt das, was nach Freud die anale Phase heißt, mit der Herausbildung des Erinnerungsvermögens zusammen; in jedem Fall steht der Sauberkeitserziehung, um mit seinen Wiener Worten zu reden, die erwachende Widerstandslust, der T r o t z des Kleinkindes entgegen, das mühsam und schmerzhaft begreifen mußte, daß Mama und Ich zwei verschiedene Wesen sind, die nicht einmal der liebe Gott wieder zusammenfügen kann, und neben diesem Verlusttrotz bildet sich doch bestimmt das Zeitgefühl heraus, das sagt: „Letztes Mal hat sie gewonnen, die ich verloren geben muß, aber dieses Mal werde ich sie schlagen, indem ich so lange auf diesem Töpfchen sitzen bleibe, bis sie aufgibt und mich mit meinen Hervorbringungen alleinläßt und ich untersuchen kann, wie sich die Vergänglichkeit materialisiert.“ Denn wenn das so wäre, dann gäbe das auch einen guten Grund dafür, daß die Konstruktion der „Portrait-Sitzung“ von Jean-Luc Benoziglio so unendlich überzeugender ist als die beruhigten literarischen, wohlorganisierten Erinnerungsbücher, in denen das F e s t h a l t e n zum Redefluß geworden ist, der trotz aller mühsam eingerichteter Stauseen der Reflexion über die Steine hinwegmurmelt, welche die Jetztzeit hineinwirft... Weil nämlich die Gegenwart unseres Helden, der seiner Familiengeschichte nachgehen will (nein, auch zwanghaft: muß), vollgerümpelt ist mit solchen Kieseln, Steinen, Felsbrocken, Findlingen – und sich vor allem auf dem WC (im WC, ums WC und ums WC herum) abspielt.
Stellen Sie sich einen Akademiker vor, in Paris, der keine ordentliche Arbeit hat. Sagen wir, er macht die übliche Tour: Nachtwächter, Bankpförtner, Kaufhausdetektiv – was man eben so machen kann, wenn einem die Vorsehung nicht das Kreuz gab, es als Möbelpacker zu versuchen, und wenn man zu wenig Courage oder zuviel Anstand hat, im Drogen- oder Prostitutionsmilieu zu karrierieren. Wenn man also zu jenen Hunderttausenden gehört, die es mit ihrem Studium der Theaterwissenschaften, der Anglistik oder der Philosophie gerade mal zur semantisch anspruchsvollen Möblierung des eigenen Elends gebracht haben, die aber nicht den rechten Klassenstandpunkt einnehmen (können), sich mit den anderen zu verbinden, um beispielsweise auf die Straße zu gehen und Balladur einen üblen Tag zu bereiten... Haben Sie das? Dann sehen Sie unseren Helden vor sich. Er ist allein, verlassen, am Ende: Frau und Kind haben ihm die schmalen Rücken zugewandt, der Arbeitsmarkt den breiten, und nun muß er auch die Familienwohnung verlassen, der Erinnerungen wie der Finanzen halber. Er zieht in ein Zimmer (der Umzug allein bestreitet ein gutes Viertel des Buches, weil er mit umfangreichen alkoholischen Verbrüderungen verbunden ist und, was eine nicht der Umzugsfirma angemeldete Enzyklopädie betrifft, sozusagen buchstabenweise erfolgt), wie die BerlinerInnen es noch aus ihrer Gegenwart, Glücklichere aus dem Gedächtnis kennen: zehn bis fünfzehn Quadratmeter, WC und Dusche auf dem Gang. Zu wenig Platz für ein glückliches Leben, zu wenig Raum vor allem für das, was das Leben ausmacht: die eigene Bibliothek. Die anderen Bücher verteilen sich hegemonial und ebenso unsortiert, aber für das Gewicht der Welt fehlt der Platz: Die Enzyklopädie, die Gewißheiten der Gegenwart (für einen Franzosen naturgemäß bedeutender als für uns) brauchen einen festen Ort, Band für Band, Buchstabe für Buchstabe, von „Aa“ bis „zytostatisch“ griffbereit und wohlgeordnet. Unser Held leidet, was nicht überraschen kann, an Störungen der Verdauung, verbunden mit der passenden Paranoia (D wie „Darmkrebs“) – was läge also näher als der Ort, an dem er ohnehin einen Großteil seiner Zeit verbringt?
Dem steht allerdings die Gemeinschaft vor, jene Gestalten, mit denen Flur und Sanitäranlagen zu teilen unser Held die Ehre hat: ein kleiner Junge von beschränkten geistigen Gaben und dessen mißtrauische Mutter, eine in einem fort stöhnende, aber unsichtbare Frau, ein proletarisch-kleinstbürgerliches Ehepaar mit Bluthund und solidem Intellektuellenhaß, eine antisemitische Concierge... Letztere gibt Anlaß, aber nicht Grund für die langen selbstquälerischen Schleifen, die der neue Mieter durch seine Enzyklopädie zieht (immer auf dem Flur-WC, versteht sich, wo die Bände an die Wand gestapelt sind und irgend jemand wiederholt das Alphabet durcheinanderbringt): Es ist ja nicht nur seine halbjüdische, großväterlich orientalische, über den halben schmutzigen Erdball verstreute Familie womöglich Opfer von Pogromen, Völkermord, Massenvernichtung geworden, es gibt ja auch die Armenier, die Urvölker Amerikas, es gab die Sklaverei – die Enzyklopädie, einmal unter dieser Rücksicht aufgeblättert, nur den Verweisen folgend, die von einem Massaker zum nächsten führen, öffnet den Blick auf eine Welt, die (wie schon die von Benoziglios Heldin Kary Karinaky) allein aus Gemetzeln besteht. Und wie in dem (zuerst übersetzten, aber später geschriebenen) Roman „Bilder einer Ex“ ist der Protagonist der „Portrait-Sitzung“ mit einer – ihn schließlich verlassenden – Frau konfrontiert, die seiner Orgie des Mitleidens mit pragmatischem Egoismus entgegenhält: Was willst du, du kennst die Opfer nicht, die du beklagst – nicht einmal die deiner weitverzweigten Familie, um die du dich nie gekümmert hast... Es ist nichts als ein Phantomschmerz, mit dem du dich nun adeln willst, und der es dir ermöglicht, deine unmittelbare Umgebung zu vernachlässigen, mich zum Beispiel... Der Held kann sie nicht halten, ihn selbst hält ja nichts mehr als diese Kartei der Vernichtung und das Geschäft der Verdauung, dieser Aufstand der Gedärme, die Scheiße zur Lektüre dieser beschissenen Welt.
So geht die Groteske dahin, im Trauermarsch mit Polka: Es gibt zu lachen und zu weinen, und am Schluß steht eine Flasche Whiskey auf einem weißen Kindersarg. Die Hölle, das ist ein Gemeinschaftsklo.
Jean-Luc Benoziglio: „Portrait- Sitzung“. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Claus Sprick, der erneut eine nicht genug zu rühmende Arbeit geleistet hat. rororo Taschenbuch, 287 Seiten, 12,90 DM.
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