: München macht sauber
Zur Olympiade 1972 entwickelten Architekten, Innenausstatter und Firmen eine neue Stadt: „Die Utopie des Designs“ im Kunstverein seziert Münchens Umbau von der „Hauptstadt der Bewegung“ zur „heimlichen Hauptstadt“ ■ Von Jochen Becker
Fahnenpulks verdecken „häßliche Stellen im Straßenbild“: Otl Aicher, Chefdesigner von Olympia 1972, fixiert in einem hundertseitigen Handbuch Münchens facelifting. Das Treffen der Weltjugend von 1972 sollte auch das Image vom häßlichen Deutschen und mit ihm Erinnerungen an die Berliner Olympiade von 1936 verdecken: „Das Erscheinungsbild muß den positiven Aspekten von Berlin standhalten und zugleich die negativen gegenstandslos machen.“ Peinlichst genau vermied das Designteam alle Ähnlichkeit mit Farben der NS-Zeit, statt dessen tunkte man die „heimliche Hauptstadt“ und ihre als Spiele verbrämten Wettkämpfe in poppastellige Blau- und Grüntöne. Plakatwände, Fahnenformationen, Hans Holleins „Media-Lines“, uniformierte Hostessen, einheitlich gekleidete Sportfunktionäre als dekorative Claqueure auf den Stadienrängen und noch heute gebräuchliche Sportarten-Piktogramme verknüpften auf der Zeichenebene feinmaschig das Spektakel. Die Loseblattausgabe, gestaltungsideologisches Grundgerüst der ersten bundesdeutschen Olympiade, hängt, plakatiert wie eine Wandtapete, im Eingangsbereich des Münchner Kunstvereins und bildet die Einleitung zur Themenausstellung „Utopie des Designs“, die Helmut Draxler und Holger Weh zusammen mit einer Projektgruppe von Kunststudenten (Thomas Eggerer, Undine Goldberg, Florian Hüttner, Jochen Klein, Josef Kramhöller, Cornelia Wittmann, Amelie Wulffen) erarbeitet haben. Ganz im Dienste der Idee von „Dekoration und Information und Kommunikation“ diente seinerzeit ein Designmodulsystem – volkstümelnd „Z'sambauer“ genannt – der flächendeckenden Vereinheitlichung. Innerstädtische Lücken wurden durch „Endlosplakate“ verkleidet; exakt verzeichnete Lichtspots überhöhten markante Bauten der Landeshauptstadt und ließen den unverwertbaren Rest im Dunkeln stehen. Im Münchner Umland bediente man sich „rustikaler Versionen der urbanen Gestaltungsmittel“, pflanzte vorgeschriebene Maibäume, Sitzbänke und Zeltdächer, dekorierte Landgasthäuser und deren Speisekarten, stellte weißblaue Zelte ins Isartal und entdeckte Tankstellen „als wichtige und häufige Treffpunkte“ im Umland, um die Bevölkerung sowie die An- und Umherreisenden olympiareif zu stimmen. „Die Stadt wird dabei als Erlebnis- und Orientierungsraum verstanden, der weit über die rechtliche Stadtgrenze hinaus in die Region, in die oberbayerische Landschaft und das Alpenvorland reicht.“ Als wäre München ein Privatunternehmen, überzog Aicher das Stadtbild bis tief in die Region hinein mit seinen Symbolen; zeitgleich erarbeitete der einflußreiche Designer die Firmenkultur einer finanzkräftigen Münchner Rückversicherung. Das für politische Entscheidungsträger lesefreundlich aufgemachte Olympia-Handbuch fixierte weit über die Zeit der Spiele hinaus die Eckdaten für Münchens Boom. Das vormals verschlafen-braune München erbte die aus Berlin geflohene Zukunfts-Technologie des Deutschen Reichs und entwickelte sich mit Siemens, BMW und MBB zum prosperierenden Standort „sauberer“ Industrie. Im Zuge dessen wuchs die Bevölkerungszahl zwischen 1951 und 1969 um über ein Drittel auf 1,3 Millionen. Ging die Modernisierung Münchens – sprich Abriß und soziale Aufspaltung gewachsener Stadtviertel, Vertreibung der Schwachen an den Stadtrand und Vorreiterrolle für die bald in ganz Deutschland spürbare Mietenexplosion – trotz des programmatischen Stadtentwicklungsplans von 1963 noch schleppend voran, fungierten die olympischen Spiele als beschleunigendes Termindruckmittel. Am sprengbildartig angelegten Modell des Verkehrsknotens Marienplatz läßt sich ablesen, wie U- und S- Bahnen den Ballungsraum durchziehen, sich auf mehreren Ebenen unterhalb neuer Fußgängerzonen kreuzen und vertriebenen Innenstadtbewohnern beziehungsweise zukünftigen Pendlern attraktives Umland verheißen sollte. Der Mittlere Ring umschloß vierspurig die City und bildete wie eine Stadtmauer die Grenze zu den Vororten. Jenseits des Rings, gleich neben dem BMW-Stammwerk, entstand das olympische Dorf mit den Ausmaßen einer Trabantenstadt. Hineinmodelliert in den Aushub der zahllosen Baugruben, wuchsen vielfältige Spielstätten, welche nach der Olympiade in eine freizeitindustrielle Nutzung überführt werden sollten. Parallel wurde im Münchner Osten „Europas modernste Entlastungsstadt“ Neu- Perlach auf den Acker gesetzt, ein „neuer Stadtteil, so groß wie Ingolstadt“, wie man den neben Stadtmodell, Fotoübersichten und Amateurfilmen zusätzlich ausgelegten Kopien der Süddeutschen Zeitung entnehmen kann. Über die damit einhergehende sozialbauliche Umstrukturierung schweigen sich die Stadtplaner aus: „Es geschah gewissermaßen die Ausquartierung eines städtischen Proletariats“ – möglicherweise fanden sie im benachbarten Neubau des Forschungszentrums von Siemens eine Anstellung – „wodurch die Innenstadt frei wurde für die Touristen, die Singles und die Wohlhabenden“ (Draxler).
Otl Aichers Olympia-Handbuch demonstriert den totalen Anspruch einer Utopie des Designs, wird sie einmal konkret: Staat und Kapital suchen ihr Heil in einem neuen Selbstbildnis und beauftragen Gestalter, ihr Image als Corporate identity abzurunden. Diese Strategie bezeichnet Helmut Draxler zutreffend als „Sozialtechnologie zur Verminderung von Reibungswiderständen“ für die Wirtschaft. Durch ihre gemeinschaftliche Erarbeitung des Themenfeldes unter Beibehaltung individueller Aufgabenbereiche ermöglicht die Präsentation für den Besucher multiple Leserichtungen; die von mir hier eingeschlagene Lektüre des Münchner Umbaus ist daher eine selektive. So fordert die extrem anschauliche Ausstellung mit ihren U-Bahn- Knoten-Modellen, Beispielen „Radikaler Architektur“ – wie sie zur Zeit etwa auch die Wiener Ausstellung der britischen Architektur-Utopisten „Archigram“ zeigt – dann auch mehrfachen Besuch ein. Denn die Dokumentation bezieht über den Rahmen der Stadtarchitektur hinaus fast sämtliche Gestaltungstechniken der frühen siebziger Jahre mit ein: spacige Sitzmodule, Bayer-Industriefilme, Amateuraufnahmen aus Neuperlach oder ein Softporno im Therapiegewand, der die chemieindustriellen Utopieversprechungen von Pille und Plastik vorführt – mit nackten Diskutanten auf transparenten Luftkissen.
Der konzeptionelle Ansatz der „Utopie des Designs“ ist ausdrücklich anti-revisionistisch: Die Gründe für Zukunftsvisionen werden nicht verdammt, sondern kritisch rekonstruiert und auf ihren brauchbaren Gehalt hin überprüft. Doch zwischen dem Wünschenswerten und dem praktisch Machbaren klaffen Untiefen. So wird das reale Potential von Richard J. Dietrichs exemplarischer „Metastadt“ aus Thyssen-Stahl im Münchner Katalog überbewertet. Dieses Modulsystem sollte mit der Erschließung des „öffentlichen Luftraums“ oberhalb des Privatgrundes und durch Verdichtung im Innenstadtbereich eine Lösung gegen die Vervorstädterung aufzeigen. Der dem Katalog beigefügte „Metaperlach“-Comix läßt jedoch erkennen, daß Dietrich – gleich seinen scharf kritisierten Kollegen – an eine (Er)Lösung durch (vom Helikopter angelieferte) Meta-Strukturen glaubt, die wie Weinranken die alten Betonstrukturen überwuchern sollten. Doch nur scheinbar bietet das Baukastensystem den zukünftigen Nutzern eine Möglichkeit, sich ein Wohnumfeld in freier Kombinatorik der Grundrisse und Nachbarschaften zu ermöglichen: Die Konstruktion zur Selbstorganisation – wer soll wie in Konfliktfällen Entscheidungen treffen – bleibt ausgespart, ein Meta-Stadtplaner weiterhin nötig. Während die antirevisionistische Lektüre der Utopien von 72 einen breiten Raum einnimmt, gerät die Sichtung der künstlerischen Boheme, von Kommunen und politischen Protestgruppierungen etwas in den Hintergrund. Nun wäre dieser nur knapp gestreifte Widerstand – als gegenkulturelle Variante – durchaus den urbanen und (sozial)technologischen Utopien gegenüberzustellen. Direkt vor Ort wurden im Münchner Kunstverein eine Reihe von 72er Nolympics-Diskussionsveranstaltungen abgehalten, über die man hier nichts weiter erfährt. Nur einige Artefakte des lokalen „Team 86“ – mit Fritz Teufel auf dem Siegerpodest und Olympiaringen auf dem Shirt – oder Fotokopien des Düsseldorfer „Büro Olympia“ („Viel Sand aufs olympische Feuer“) verweisen auf Protestbewegungen.
„Umkehrung von Berlin“ lautete die 1972 ausgegebene Designer-Parole, doch ihre Lehren aus der Geschichte mündeten in einem leichtfertig zusammengebauten Deutschlandbild, das durch den „Schwarzen (5.) September“ aus dem Lot geriet: Selbst Otl Aichers nachträglich präparierter „Kalender mit Sportpiktogrammen“ zeigte am Tag der palästinensischen Attacke auf die israelische Olympiamannschaft einen Riß. Die produktgestaltete Tradition der nunmehr „heimlichen Hauptstadt“ wagte zwar mehr Demokratie – 1972 regierte die SPD nicht nur in München, sondern erstmals auch bundesweit ohne CDU-Beteiligung. Doch Frei Ottos gläsernes Zeltdach über Günter Behnischs in die organisch anmutende Landschaftsgestaltung hineingegrabenen Massivbauten, die jugendbewegte Farbenfreude und eine demonstrative Kunstbeflissenheit (Einladung an den Earth-Art-Titanen Walter de Maria) signalisierten Transparenz, Abschied von gestern und Wagemut als letztlich ungedeckten Scheck. So sollten – quasi zur Sicherheit – „vorzugsweise Wesenszüge des königlichen Münchens“ in das städtische Erscheinungsbild einbezogen werden. Der Hauptstadtbeschluß von 1991 und die „Berlin 2000“-Bemühungen um eine wiederholte Geschichtsklitterung der Reichsolympiade markieren einen erneuten Umbruch für München. So zeichnet sich ein weiterer Umschlag in der Beziehung zwischen braun-bewegter und faschistischer, zwischen heimlicher und gesetzlicher Hauptstadt ab, während die Münchner Stadtmuseen und der Kunstverein noch an ihrer nationalsozialistischen und christlichsozialen Vergangenheit zu arbeiten haben.
Bis zum 1. Mai im Kunstraum München. Statt Katalog ist an der Kasse ein brauner Ordner erhältlich, angefüllt mit zahlreichen Essays der beteiligten Arbeitsgruppen (der Geruch der Kunststoffmappe erinnert an die damalige Plastikeuphorie und gleichermaßen an den 73er-Ölschock).
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