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Der Westen läßt die Serben gewähren

■ Die serbische Eroberung Gorazdes wird tatenlos hingenommen / UNO gesteht Scheitern ein, zieht aber keine Konsequenzen / Clinton und Sicherheitsrat lehnen Reaktion ab / Scharfe bosnische Kritik

Sarajevo/ New York/ Moskau (AP/AFP/wps) – Angesichts der neuen serbischen Angriffe auf die Bevölkerung der eingeschlossenen Stadt Goražde haben führende Vertreter der Vereinten Nationen das Scheitern ihrer Bosnienpolitik erklärt. Der Kommandeur der UN-Schutztruppen (Unprofor) in Bosnien, General Michael Rose, kritisierte, die Unprofor und die internationale Gemeinschaft seien „mißbraucht worden, um Rückendeckung für die Fortsetzung der Kriegsziele zu geben“. Zugleich schloß er weitere Luftangriffe gegen serbische Stellungen aus.

Am Sonntag nachmittag hatten sich der UNO-Sonderbeauftragte Yakushi Akashi und der bosnische Serbenführer Radovan Karadžić auf die Schaffung einer „Sicherheitszone“ rund um Goražde geeinigt, in der UNO-Blauhelmsoldaten einen Puffer zwischen den serbischen Belagerern und den bosnischen Verteidigern bilden sollten. Karadžić hatte die Einstellung der serbischen Angriffe auf Goražde versprochen; Akashi hatte UN-Offizieren befohlen, bereits vorbereitete neue Nato-Luftangriffe auf serbische Panzer um Goražde wieder abzublasen. Wenige Stunden später drangen jedoch serbische Panzer in das Stadtzentrum ein. In Reaktion darauf konstatierte Akashi, der eben vereinbarte Waffenstillstand halte offenbar nicht, und schickte eine zur Entsendung nach Goražde bereitstehende Truppe aus französischen, britischen, ukrainischen, ägyptischen und skandinavischen Blauhelmsoldaten wieder in die Kasernen zurück.

Dieser UNO-Rückzug gab den serbischen Belagerern dann freie Hand zur Wiederaufnahme der massiven Artillerieangriffe auf Goražde, auf die der Westen nun wie gelähmt schaut. In einer äußerst verhaltenen Erklärung hatte sich der UNO-Sicherheitsrat der Vereinten Nationen am Sonntag abend darauf beschränkt, die bosnischen Serben ein weiteres Mal zum Stopp ihrer Offensive aufzufordern, ohne weitere Maßnahmen anzukündigen. Der britische UNO-Botschafter David Hanney sagte, der Sicherheitsrat habe keinen „Zauberstab“, um die sechs UNO-Schutzzonen in Bosnien- Herzegowina zu schützen.

US-Präsident Bill Clinton, der am Wochenende eine Aufhebung des Embarogs gegen das aus Serbien und Montenegro bestehende „Rest-Jugoslawien“ in Erwägung gezogen hatte, zeigte sich angesichts der neuen Entwicklung ratlos. Am Sonntag abend hatte er weitere Luftangriffe gegen die Serben ausgeschlossen: „Wir haben eine diplomatische Rolle zu spielen.“ Gestern meinte er: „Wir wollen nicht, daß sich der Krieg ausweitet.“

Der einflußreiche US-Senator Joseph Biden sprach sich für einen vollständigen Rückzug der UNO aus Bosnien und die anschließende Aufhebung des Waffenembargos aus: „Laßt sie kämpfen, denn nur so kann eine echte Lösung erzielt werden.“ Frankreichs Außenminister Alain Juppé sprach sich gestern ebenfalls gegen neue Luftschläge wie auch gegen eine Aufhebung des Waffenembargos gegen die bosnische Regierung aus. Rußland hielt sich bedeckt: „Rußland ist der einzige Akteur in diesem Drama, der sich keine unverantwortlichen Taten zuschulden kommen ließ“, meinte Außenminister Andrej Kosyrew am Sonntag abend in Moskau.

Vertreter Bosnien-Herzegowinas erhoben unterdessen schwere Vorwürfe gegen die UNO. Ministerpräsident Haris Silajdžić sprach von einem „völligen Versagen der internationalen Gemeinschaft und der Vereinten Nationen“. Der bosnische Präsident Alija Izetbegović forderte den Rücktritt von UN-Generalsekretär Butros Butros Ghali, wenn Goražde falle. Vizepräsident Ejup Ganić sagte in New York, die Zukunft der UNO gehe mit der Goraždes Hand in Hand.

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