: Versinken die Sozialämter im Chaos?
■ Überforderte SachbearbeiterInnen und lange Wartezeiten: Sozialämter plädieren für mehr Personal und leistungsgerechtere Bezahlung / Senatsverwaltung für Soziales setzt auf modernes Computersystem
Seit einem halben Jahr wiederholt sich für Thomas Kirey jeden Monat das gleiche Ritual. Drei bis vier Stunden muß er im Sozialamt Wedding auf den Kostenübernahmeschein für das Arbeiterwohnheim warten. Nicht nur die Rumsitzerei wegen „einem blöden Papier“ nervt ihn, sondern auch die „Unfreundlichkeit der Sachbearbeiter“. Renate Banie geht es ähnlich. Alle zwei Monate macht sie sich mit ihrem Baby auf den Weg zum Sozialamt wegen der Unterhaltszahlungen, was sie vier bis fünf Stunden Zeit kostet. „Ich bin total genervt“, so die 27jährige, „es sind einfach zu viele Leute und zuwenig Sachbearbeiter.“ Auch der obdachlose Klaus Willner* hat die Nase gestrichen voll. Er soll sich zu Haus- und Hofarbeiten für drei Mark die Stunde in einer Schule melden. Bei wem genau und wo sich die Straße befindet, kann ihm der Sachbearbeiter nicht sagen. Er sei nicht von hier und kenne sich auch nicht aus. Bei so wenig Auskunft ist für Willner klar, daß er den Job nicht machen wird.
Jede der 56 SachbearbeiterInnen des Leistungsamtes III betreut theoretisch etwa einhundert Sozialhilfeempfänger. Aufgrund eines sehr hohen Krankheitsstandes und steigender Zahlen von Sozialhilfeempfängern kann das leicht zur Verdoppelung und sogar Verdreifachung „der Klientel“ führen. Oft müssen an Publikumstagen kurzfristig SachbearbeiterInnen aus anderen Bereichen einspringen. So haben die MitarbeiterInnen „tatsächlich nicht die Chance für eine eigentliche Betreuung“, so Manfred Nowak, leitender Fachbeamter des Sozial- und Verwaltungsamtes. Für die 10.000 Sozialhilfeempfänger im Wedding reicht das Personal einfach nicht aus. Außerdem sei es schwer, vakante Stellen zu besetzen, und nicht alle seien so besetzt wie erforderlich. „Die MitarbeiterInnen sind gereizt und die Sozialhilfeempfänger genervt, das führt dann oft zu Eskalationen“, so Nowak. Seit im November letzten Jahres eine Mitarbeiterin zweimal von einem Sozialhilfeempfänger mit einem Messer angegriffen wurde, patrouillieren zwei Wachschutzmänner durch das Haus.
Aber die Wachmänner als „psychologisches Moment“ gehen am eigentlichen Problem vorbei. Auch die Schulung von Seiteneinsteigern im Haus bringt keine dauerhafte Lösung. Das ist nicht nur mühsam und eine zusätzliche Belastung für die „alten Hasen“, so Nowak, sondern auch unzureichend. Die Attraktivität des Arbeitsplatzes müsse durch finanzielle Anreize erhöht werden. Ein Antrag an die Senatsinnenverwaltung, aus eigenen bezirklichen Mitteln mehr Gehalt zahlen zu dürfen, wurde abgelehnt. „Arbeitsüberlastung ist kein Grund, mehr Gehalt zu zahlen“, so die Begründung von Jürgen Bader, Referatsleiter der Senatsinnenverwaltung.
Nowak verspricht sich von der Einführung eines modernen Datenverarbeitungssystems noch in diesem Jahr eine Verbesserung. Durch eine bessere Technik, so glaubt er, ergebe sich mehr Zeit zur Beratung. Auch die Senatsverwaltung für Soziales schwört auf das Computersystem „Basis“. Pressesprecher Wolfgang Zügel ist überzeugt, daß das System, das derzeit noch im Bezirksamt Weißensee erprobt wird, „immens viel Zeit spart“, die zur Beratung genutzt werden könne.
„Sehr skeptisch“ steht dem die Sozialstadträtin von Kreuzberg, Ingeborg Junge-Reyer, gegenüber. Denn „Basis soll fünfzehn Prozent Personal einsparen“, so die Sozialdemokratin. Aber schon jetzt seien zwanzig Prozent der Stellen im Sozialamt „ständig nicht besetzt“, und viele MitarbeiterInnen gingen in die „normale Verwaltung“. Ihre Forderungen: eine leistungsgerechtere Bezahlung und attraktivere Arbeitsplätze.
In den Ostberliner Sozialämtern wird die Arbeit häufig dadurch erschwert, daß die MitarbeiterInnen nicht über die nötige Ausbildung verfügen, so die Sozialstadträtin von Mitte, Angelika Buch (parteilos, PDS-Mandat). Im Mai werden 25 MitarbeiterInnen aus Ostberlin an einem Weiterbildungskurs teilnehmen, den die Arbeitsgemeinschaft der Sozialstadträte in Zusammenarbeit mit der Akademie für Gesundheits- und Sozialberufe organisiert. Der fünfmonatige Kurs beinhaltet neben grundsätzliche Fragen zur Verfassung und zum Verwaltungsgesetz auch ein Praktikum in einem Westberliner Sozialamt. Trotzdem plädiert Angelika Buch für mehr Stellen, da viele MitarbeiterInnen Frauen mit Familie sind, die an Schulungen außerhalb der Arbeitszeit kaum teilnehmen könnten.
Obwohl auch in vielen Ostberliner Sozialämtern die Fluktuation aufgrund der hohen Belastung groß ist und lange Wartezeiten an der Tagesordnung sind, ist der Krankenstand geringer als in den Westbezirken. Den Grund sieht Ernst-Ulrich Reich, leitender Fachbeamter des Sozialamtes Hohenschönhausen, in „der Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren“.
Die zwei Wachmänner im Rathaus Wedding werden noch auf unbestimmte Zeit ihrer undankbaren Aufgabe, Krakeeler zur Räson zu bringen, ohne sie auch nur anfassen zu dürfen, nachkommen müssen und ihre Runden durch die überfüllten Gänge drehen. Auf Wunsch der Mitarbeiter. Vor sechs Wochen erst wollte sich ein Sozialhilfeempfänger mit einer Axt Zugang zur Kasse verschaffen. Barbara Bollwahn
* Name geändert
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