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Von der Gesellschaft einfach weggesperrt?

Schwererziehbare Mädchen im geschlossenen Heim / Ein Rahmen, der Gewalt fördert  ■ Aus München Corinna Emundts

Bevor sie nach Gauting kam, hatte sie noch nie über Selbstmord nachgedacht. „Ich wußte vorher überhaupt nicht, was das ist“, sagt Aniza. In dem dreiviertel Jahr, das sie in der geschlossenen Abteilung des Mädchenheims Gauting verbrachte, habe sie es gleich ein paarmal versucht. Mit allen möglichen Mitteln: Tabletten schlucken, Pulsadern ritzen, Putzmittel trinken. Eigentlich wollte sie nicht richtig sterben, nur so ein bißchen. „Ich wollte mir etwas antun, damit ich ins Krankenhaus komme und von dort wegrennen kann.“ Wäre sie dabei draufgegangen, wäre es ihr echt egal gewesen. Behauptet sie. „Heute könnte ich das nicht mehr.“

Heute – das sind drei Jahre nach Gauting. Vor kurzem ist Aniza 18 geworden. Sie sitzt auf dem Sofa in der Wohnung ihres Freundes, mit dem sie schon damals zusammen war und von dem sie eine mittlerweile zwei Jahre alte Tochter hat. Nachdenklich schaut sie aus. Braune, gewellte Haare, dunkle Augen. Erst der zweite oder dritte Blick fällt auf die zahlreichen Narben an der Innenseite ihres Unterarms. „Das kommt vom Ritzen. In Gauting hat fast jede geritzt.“ Es habe ihr nicht weggetan, sie wollte ihre Wut einfach rauslassen. Warum an sich selbst und nicht an den anderen? „Das konnte ich nicht, dann wäre es mir noch dreckiger gegangen.“

Die Psychologen haben für das Ritzen eine Erklärung parat. Es sei eine Form von Autoaggression, selten jedoch in „suizidaler Absicht“. Ritzen als Mittel zur Problembewältigung trete phasenweise gehäuft auf. „Es scheint Ansteckungscharakter zu haben“, schreiben die Gautinger Heimpsychologen in einem Fachblatt. Die Heimbewohnerinnen zeigten „massive Verwahrlosungserscheinungen, verbunden mit neurotischen Störungen“. Zu diesen Mädchen also zählte Aniza auch. Sie wirkt weder verwahrlost noch neurotisch – was immer sich die Psychologen darunter auch vorstellen mögen.

Die geschlossene Abteilung des Mädchenerziehungsheims Gauting ist ein Ort der Widersprüche. Der Widerspruch etwa zwischen Aniza heute und dem Mädchen, das sie vor drei Jahren gewesen sein soll. Der Widerspruch zwischen dem, was Mädchen erzählen und Psychologen sagen. Auch der Widerspruch, daß geschlossene Unterbringung zwar pädagogisch fraglich ist, aber welche Alternative gibt es dazu?

Die Widersprüche werden auch im Münchener Jugendamt diskutiert, wo sich einzelne Mitarbeiter heftig über diese Frage streiten und gerade an einer Resolution zu dem Thema basteln. Kathrin Klika, Sachgebietsleiterin für Heimunterbringung beim Jugendamt München, ist „nicht glücklich mit der geschlossenen Unterbringung“, wie sie sagt. Sie vermeiden sie, so oft es geht, „aber sagt mir etwas Vernünftigeres für ein Mädchen, bei dem ich Angst haben muß, daß es morgen in der Isar schwimmt“. Doch auch die Unterbringung in einem hermetisch abgeriegelten Haus findet sie selbst fragwürdig: „Das ist Freiheitsentzug, was pädagogisch gesehen eine Strafmaßnahme bedeutet.“

Geschlossene Heime für schwererziehbare Jugendliche sind in Deutschland seit 1968 umstritten und wurden bis in die achtziger Jahre weitgehend abgebaut. Doch selbst das Bundesjugendministerium führt keine Statistik, wie viele Heime „geschlossen unterbringen“ – zwischen drei und sieben Einrichtungen sollen es bundesweit sein. Denn auch sogenannte „offene“ Heime verfügen möglicherweise über geschlossene Abteilungen, ohne sie anzugeben.

Derzeit gibt es zumindest politisch eine Renaissance für diese Erziehungsmaßnahme: Vor allem aus den neuen Bundesländern wird verstärkt die Forderung nach mehr geschlossener Unterbringung laut. Auch CDU-Fraktionsvorsitzender Wolfgang Schäuble forderte dies seit den Ereignissen in Rostock. „Das geht in die falsche Richtung“, sagt der Dresdener Sozialwissenschaftler Christian von Wolffersdorff in seiner 1990 veröffentlichten Studie über geschlossene Unterbringung. Er stellt fest: „Das geschieht aus politischen, nicht aus pädagogischen Erwägungen – um den Problemdruck abzubauen, um die Jugendlichen ruhigzustellen.“

Als Aniza 15 Jahre alt war, wies ein Richter für sie die geschlossene Unterbringung an. Ein Polizeiwagen fuhr sie nach Gauting, weil sie aus allen anderen Heimeinrichtungen abgehauen war. „Entwichen“, wie die Psychologen sagen. „Entweichen“ ist der häufigste Einweisungsgrund, manchmal sind es Prostitution, Drogen oder Kleinkriminalität. Meistens landen in Gauting Mädchen, die andere Heime bereits aufgegeben haben. Und weil es das einzige in ganz Bayern ist sowie eines von wenigen geschlossenen Stationen bundesweit, leben dort Mädchen aus ganz Deutschland. Es ist der letzte Zipfel der Jugendhilfe – über den man ungern redet, weil er die Kapitulation vor dem Leitsatz „Therapie statt Einsperren“ bedeutet. Gauting mag besser sein als Knast oder Psychiatrie. Aber die Türen dort haben keine Klinken, die abgesperrten Fenster gehen nur auf einen gut geschützten Innenhof hinaus.

Aniza wuchs bei ihrer Großmutter im ehemaligen Jugoslawien auf und kam als Kind zur in Deutschland lebenden Mutter. Weil sie sich mit ihrer Mutter nie richtig verstanden hatte, wie sie sagt, riß sie von zu Hause aus. Ihre Heimkarriere begann, die in Gauting in der geschlossenen Abteilung endete. Nach einem dreiviertel Jahr mit insgesamt sieben „Entweichungen“ wechselte ihr Sachbearbeiter beim Jugendamt. „Der Neue hat mich nach kurzer Zeit rausgeholt“, erzählt Aniza. Bald wird sie schwanger und zieht in ein Heim für minderjährige Mütter, wo sie bis heute wohnt – freiwillig. Sie macht den qualifizierten Hauptschulabschluß nach und fängt demnächst eine Lehre im Einzelhandel an.

Die Erinnerungen an ihre Zeit in Gauting wirken erstaunlich präzise und frisch. Die ersten vier Wochen seien schlimm gewesen. Da gab's überhaupt keinen Ausgang, die Briefe wurden gelesen, telefonieren durfte sie auch nicht. „Am Anfang habe ich immer nur geheult, jeden Tag. Ich wußte nicht, warum die mich einsperren. Ich bin in der Gruppe gehockt und habe geraucht.“ Ihr erster Ausbruch passierte eher zufällig: Mit einer Besuchergruppe kam sie unbemerkt an der Pforte vorbei. „Ein Mädchen sagte: Renn weg! Ich bin weggerannt und hätte am liebsten jeden Baum angefaßt.“ Sie flüchtete zu ihrem Freund.

Bei einem späteren Ausbruchsversuch wurde sie von der Polizei am Münchner Karlsplatz entdeckt. Zwei Erzieher holten sie ab. „Die haben Angst vor mir gehabt, dabei habe ich sie nicht mal angefaßt, ich habe im Auto nur wütend rumgeschrien. Als wir im Heim ankamen, warteten bereits zehn Erzieher auf mich.“ Aniza wurde in die „Aufnahme“ gebracht, wie es im Heimjargon heißt; eine kleine unmöblierte Zelle mit verschlossenem Plastikfenster und Guckloch in der Türe. „Die haben mir nur Unterhose und T-Shirt gelassen. Ich habe mich in die Ecke neben der Türe gesetzt, damit sie mich nicht sehen konnten. Jede Viertelstunde kam eine Erzieherin vorbei. Eine kaute Kaugummi und grinste mich bloß an.“

„Früher wurde die Aufnahme bei fast jeder Entweichung benutzt“, sagt Heimpsychologin Barbara Hanke, „aber das brauchen Sie nicht schreiben.“ Denn heute werde sie nur noch in Ausnahmefällen belegt.

Ortstermin. Gauting ist eine friedliche Schlafstadt im Münchner Süden. Das Asylbewerberheim und das Mädchenerziehungsheim liegen nebeneinander am Ortsrand, da wo die Felder anfangen. Und wieder ein Widerspruch: Zwischen der inneren und äußeren Realität. Das Äußere ist freundlich. Die geschlossene Abteilung befindet sich inmitten einer weiten Parkanlage mit Schwimmbad und eigener Heimschule sowie Häusern mit offenen und heilpädagogischen Wohngruppen. „Goldener Käfig“, nannte Aniza das und fragt, was es ihr nütze, in einer schönen Anlage zu leben, wenn man sich so beschissen fühle und nicht raus dürfe.

Um Mauern architektonisch zu vermeiden, sind die vier Wohngruppen für 28 Mädchen zwischen zwölf und sechzehn Jahren nur durch einen Innenhof zugänglich und dieser nur durch das Aufschließen zweier Türen. Es ist warm, nachmittags, die Mädchen kommen aus der Schule. Ein paar haben sich im Hof in die Sonne gesetzt. Einer der Psychologen führt uns zu einer Wohngruppe. „Hey, haben Sie auch erzählt, daß in unserer Gruppe ein Mädchen von einem Erzieher geschlagen wurde?“ schreien sie ihm nach. Er reagiert nicht.

Drinnen führt eine Galerie im oberen Stock zu den Zimmern. Sie ist mit einem Netz zur Decke abgesichert. „Die Brüstung ist doch recht niedrig“, sagt der Psychologe. Das Gespräch mit drei ausgewählten Mädchen darf nur in Gegenwart zweier Erzieherinnen stattfinden.

Da ist Sandra, 15, die bald in eine offene Wohngruppe umziehen wird. Am Unterarm trägt auch sie die typischen Narben. Und die 15jährige Jutta, die am liebsten wieder zu ihrer Mutter in einer schwäbischen Kleinstadt zurückgehen würde. Ob die Mutter das auch will? „Nein, wohl nicht“, murmelt sie. Vor kurzem, erzählt sie stolz, habe sie sich Dreck ins Gesicht geschmiert und sich von der Schaukel gestürzt. Sie wurde mit Verdacht auf Kopfverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. „Ich wollte endlich mal rauskommen“, sagt sie und ärgert sich über die vierzig Zusatzstunden Hausarbeit, die ihr die Aktion eingebracht hatte.

„Wenn eine Neue kommt, reden wir unheimlich viel übers Weglaufen“, erzählen die Mädchen. Auch Aniza berichtet von regelrechten „Abhauspielen“. Aber auch von Aggressionen der Mädchen untereinander: „Wenn sie eine Neue nicht mögen, machen sie sie fertig.“ Ob mit Klobürste im Gesicht oder Urin im Essen. Ein Mädchen habe sie gekannt, das die anderen aufs Bett zwangen und ihr mit einer Flasche in die Scheide stoßen wollten. Schauergeschichten?

Auch eine ehemalige Erzieherin in Gauting, die nicht genannt werden will, hat davon gehört. „Der geschlossene Rahmen fördert Gewalt“, sagt die Sozialarbeiterin, die die Einrichtung wegen der „schlechten Atmosphäre“ wieder verlassen hat. Der Gruppendruck sei stark unter den Mädchen, „unwahrscheinliche Aggressionen bauen sich dort auf“. Die Mädchen richteten sie gegen sich selbst oder andere, vor allem gegen die Erzieher. „Sie greifen alles an, was aus der Erwachsenenwelt kommt, weil die Erwachsenen diejenigen sind, die sie eingesperrt haben.“

Nach ihrer Erfahrung dort, sagt sie, glaubt sie nicht, daß geschlossene Unterbringung etwas dazu beitrage, Jugendliche wieder auf ein Leben „draußen“ vorzubereiten. „Ich habe den Eindruck, sie lernen eher noch schlimmere Verhaltensweisen.“

Barbara Hanke, Psychologin in der geschlossenen Abteilung in Gauting, mag dies nicht abstreiten. Dennoch sieht sie in der Geschlossenheit eine Chance. „Wir können hier vielleicht an ein Mädchen herankommen, das sich allen anderen Therapieangeboten entzogen hat.“ Selbst die Aggression könne bei der Auseinandersetzung helfen. „Wir wollen sie nicht wegsperren von der Gesellschaft.“ Die tatsächliche geschlossene Unterbringung dauere ja nur kurze Zeit. Vier Wochen seien es, danach bekommen die Mädchen, je nach Verhalten, begleiteten und später unbegleiteten Ausgang. Und so manches Mädchen wolle am Ende gar nicht mehr gehen.

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